Seit knapp einem halben Jahr schreibe ich auf der Webseite des SZ Magazins die Kolumne „Liebe zukünftige Lieblingsfrau“. Ich bin sehr froh und ein bisschen stolz, dass am 4. Oktober das Buch mit der Geschichte hinter der Kolumne bei Kein&Aber erscheint. Man kann es ab sofort vorbestellen (zum Beispiel über einen Klick auf das Cover hier). Ich bin aufgeregt (schon deshalb, weil es noch gar nicht fertig ist …) und ziemlich glücklich.
Das mit den Reparationen
Jetzt ist der schlechteste Moment, um über Reparationsforderungen von Griechenland an Deutschland zu reden. Sie verdienen ein würdigeres Umfeld, nicht das längst merkwürdige Wüten aller möglicher Halbbeteiligter. Natürlich ist es falsch, „den Griechen“ vorzuwerfen, sie würden „ausgerechnet jetzt“ mit ihren Forderungen kommen, denn die Forderungen gab es immer, und sie wurden auch immer kommuniziert. Es ist im Gegenteil zynisch, das jetzt umzudrehen. Bisher hat eben nie jemand richtig zugehört, aber das ist der Schmerz und nicht die Schuld vor allem jener, die die Verbrechen noch erlebt haben.
Aber die Reparationen und Zwangsanleihen haben mit der aktuellen Situation nichts zu tun. Mir wäre es lieber, die Diskussion fände nicht jetzt statt. Am liebsten wäre mir, sie hätte vor zehn oder zwanzig Jahren stattgefunden. Aber es ist, wie es ist, und es wäre wohl naiv zu glauben, man könnte eine Pause-Taste finden, bis alles andere gelöst ist.
Also brauchen wir einen besseren Weg. Ich habe ein paar Gedanken dazu.
Die erste Wahrheit der Diskussion ist, dass Deutschland den Schaden und den Schmerz, den es im und um den Zweiten Weltkrieg verursacht hat, niemals mit Geld reparieren kann. Wir haben einfach nicht genug.
Ich halte die im griechischen Parlament präsentierten 279 Milliarden für ziemlich plausibel erklärt, aber nicht einmal die könnte Deutschland sich leisten, geschweige denn all jene Forderungen anderer Länder, die da noch nachkämen, wenn das Beispiel einmal gesetzt wäre. Die Verbrechen waren zu groß und zu viele.
Keines meiner Heimatländer kann seine Schulden einfach so begleichen, das scheint irgendwie mein Schicksal zu sein, aber so ist es.
Schuld und Schulden sind allerdings eben nicht dasselbe. Und im Falle Griechenlands gibt es den Sonderfall jener Zwangsanleihe, deren Begleichung eben keine Reparation ist, sondern einfach die Rückzahlung eines Kredits (sein könnte). Das eröffnet Möglichkeiten. Selbst wenn Deutschland seine Schulden nicht bezahlen kann, könnte es Wege geben, an der Schuld zu arbeiten.
Dafür muss die Diskussion als erstes von jener um die Eurokrise gelöst werden. Ich schlage vor, dass eine Kommission aus Elder Statesmen beider Staaten, gerne unter dem Dach irgendeiner internationalen Organisation, sich dafür zusammensetzt – und sich dafür ein bisschen Zeit nimmt. Diese Diskussion ist unabhängig von allem anderen. Egal ob der Euro zerbricht oder übermorgen alles schön ist und die Eurozone eine Fackel des Wirtschaftswachstums – einfach nicht mehr darüber zu reden ist aus meiner Sicht keine Lösung.
Es gibt drei voneinander getrennte Stränge, die heute unter anderem von der Bundesregierung zu dem einen Thema Reparationen zusammengefasst werden: Die Entschädigung für die Zerstörung der Infrastruktur in Griechenland, die Entschädigung von Opfern und den berühmten Zwangskredit. Dringlich ist die Entschädigung der Opfer, weil sie alt sind.
Es ist offensichtlich, dass Deutschland nicht alle Opfer finanziell wird entschädigen können. Für die Opfer der unter der Nazi-Ideologie Verfolgten hat es 1960 bereits eine Entschädigung von 115 Millionen Mark gegeben, für andere – wie die Überlebenden und Angehörigen der Massaker von Distomo, das als „Kriegshandlung“ (besser: Kriegsverbrechen) gewertet wird – gab es keine. Mein Vorschlag wäre folgender: Es gibt einige wenige alte Überlebende und Angehörige, die heute im Elend leben. Ich glaube, ihnen sollte über eine Stiftung schnell geholfen werden. Dafür muss man keine juristische Verpflichtung anerkennen, man kann es einfach tun, und es ist nicht einmal teuer. Es ist eine Frage von wahrscheinlich ein paar Millionen Euro.
Der größte Batzen jener 279 Milliarden Euro entfällt auf die Zerstörungen während der Besatzung, und es ist offensichtlich, dass sie nie bezahlt werden. Bis jetzt ist das auch gar keine Forderung der griechischen Regierung (sie hat bisher nur die Studie präsentiert, in der die Zahlen berechnet wurden). Meiner Meinung nach kann die deutsche Bundesregierung sich hier mit einigem Recht darauf berufen, dass diese Reparationen abgeschlossen sind. Das heißt nicht, dass man nicht miteinander sprechen kann und sollte, denn es geht hier nach den Worten des griechischen Ministerpräsidenten in Berlin explizit nicht um eine finanzielle Frage, sondern um eine moralische. Aber Geld wird da kaum fließen (können), und das sollte auch nicht das eigentliche Thema sein.
Anders ist es bei dem Zwangskredit. Die juristische Position ist sicher nicht eindeutig, aber Griechenland erwartet mit einigem Recht die Rückzahlung (tolles Thema gerade, klar). Die Summe dürfte sich bei 10,3 Milliarden Euro einpendeln, und gerade die juristische Unklarheit könnte eine großartige Möglichkeit sein, etwas Gutes daraus erwachsen zu lassen. Ich mag die Idee einer griechischen Förderbank nach dem Vorbild der KfW, die unter anderem mit Geld aus dieser Anleihe Wachstumsimpulse durch Kredite an Unternehmer setzen kann. Ich hielte das sogar für eine politische Möglichkeit, bei den Bedingungen der Troika-Programme hart zu bleiben, um die Wähler zuhause zufriedenzustellen, und zeitgleich diese Impulse zu setzen, weil das Geld eben nicht an die (ungeliebte linke) griechische Regierung ginge, sondern zum Beispiel an Start-Up-Unternehmer – die es in Griechenland gibt, denen aber entscheidende Dinge zum Erfolg fehlen.
Ich kann mir ein paar Leute aus der Generation derjenigen vorstellen, die alt genug sind, noch Kontakt zu haben zu den Zeiten über die wir hier reden. Auf beiden Seiten (und dies ist tatsächlich einer der wenigen Momente in meinem Leben, wo ich mir wünsche, Helmut Kohl könnte und wollte noch aktiv mitmischen. Ich glaube, er wäre ein Guter dafür). Die zwischen den ehemaligen Gegnern Griechenland und Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten gewachsene Freundschaft ist für mich ein Wunder – ohne das es mich gar nicht gäbe – und ich würde es gerne gewürdigt sehen. Im Moment ist davon auf beiden Seiten aus den Reihen der aktiven, ja, hyperaktive Politik zu wenig zu spüren.
PS. Kann nicht mal einer dem Kammenos ein Spielzeug geben, das ihn ablenkt? Der stört wirklich nur noch.
Vom Mythos der technischen Institution
Es mag bei komplexen Problemen normal sein, dass der Kenntnisstand über die Fakten extrem variiert, und es gehört zum Immunsystem einer Demokratie, dass Menschen in der Lage sind, auch auf Grundlage von relativ wenig Informationen in der Masse recht weise Entscheidungen zu treffen. Aber es wird unmöglich, wenn diese Informationen falsch sind. Vorurteile sind keine Urteile.
Ich begegne regelmäßig zwei Annahmen, die aus meiner Sicht zur schwierigsten Hürde in der deutschen Diskussion um Euro- und Griechenlandkrise geworden sind. Die erste Annahme ist, die Beamten der Institutionen formerly known as Troika wären eine Art unpolitisches „Technisches Team“, das quasi nur zur Umsetzung von politischen Beschlüssen aus Brüssel in die Hauptstädte Südeuropas reist und selber unpolitisch wäre. Die zweite Annahme, eigentlich eine direkte Folge ist, die Troika hielte sich an Beschlüsse aus Brüssel. Beide Annahmen sind verständlich, denn genau das gerieren sowohl die Institutionen als auch der größte Teil der Medien. Aber beide Annahmen sind falsch.
Ich kann der Geschichte des IWF hier natürlich nicht gerecht werden. Er ist in den vergangenen Jahrzehnten überall auf der Welt als Pioniertrupp der neoliberalen Ideologie in Krisen- und Katastrophengebiete eingezogen und hat eine Schneise der Verwüstung hinterlassen (es lohnt sich, das nachzulesen, schon weil es absurd und unglaublich wirkt, dass eine Weltgemeinschaft das zulässt). Gegründet als Retter für Staaten in Krisen hinterlässt der IWF regelmäßig weite Teile der Bevölkerung ohne Arbeitnehmerrechte und Sozialsysteme. Die Programme, an die die Auszahlung von Hilfskrediten gebunden ist, lassen sich regelmäßig zusammenfassen als Dreiklang aus Kürzung der Staatsausgaben, Liberalisierung der Märkte (auch und vor allem des Arbeitsmarktes) und die Privatisierung von Staatseigentum.
Er ist keine neutrale, „rein technische“ Einrichtung. Abgesehen davon wäre er eine schlechte: Bei dem Griechenland-Programm haben sich die IWF-Experten nach eigenem Eingeständnis fürchterlich verrechnet und so den Absturz der Wirtschaft und das Leid der Bevölkerung extrem verschärft.
Hier ist aber vor allem eins wichtig: Der IWF ist keine europäische Institution und natürlich folgt er auch keinen Vorgaben aus Brüssel. Es ist nicht einmal festgelegt, dass IWF und EU-Kommission in Bezug auf die Rettungsprogramme die gleichen Ziele haben, sie sollen sich nur abstimmen. Zu Beginn der Krise hatte unter anderem Wolfgang Schäuble deshalb die Idee eines Europäischen Währungsfonds vertreten, sich damit aber leider nicht durchsetzen können.
Dass die Europäische Zentralbank (EZB) unabhängig und in keiner Form weisungsgebunden ist, ist ohnehin klar. Das macht es im Gegenteil umso unverständlicher, dass sie überhaupt in der Troika dabei sein durfte. Es gibt heute auch niemanden mehr, der umfassend erklären kann, wie es dazu kam, sondern es hat im Gegenteil das Europäische Parlament nach ausführlicher Untersuchung festgestellt, dass die demokratische Legitimation der gesamten Troika-Konstruktion schwach ist und die Teilnahme der EZB juristisch fragwürdig.
Über die Rolle der EZB heißt es in einer Untersuchung des Brüsseler Think Tanks Bruegel
The ECB’s role is less clearly defined than the Commission’s. The legal texts refer to it in an oblique way, using the formula ‘in liaison with the ECB’. Reasons for European authorities to request ECB participation in the Troika are not spelled out explicitly, and there is no straightforward rationale for this involvement.
(PDF Seite 24f.)
Kurz: Keiner weiß mehr, was die da sollen, aber die EZB hat nach Recherchen von Harald Schumann ihre undefinierte Rolle ausgenutzt, um in unfassbar dreister Art und Weise verschiedene europäische Banken auf Kosten europäischer Steuerzahler zu sanieren. Die Verluste trugen die ohnehin gebeutelten Südeuropäer, die Gewinne machten Privatunternehmen oder Privatleute wie die Tochter des angolanischen Diktators dos Santos, die billig eine Bank kaufen konnte, deren Milliardenschulden von portugiesischen Steuerzahlern übernommen worden waren. Weil die EZB Schumanns Nachfragen nicht beantwortet, hat der Europa-Abgeordnete Sven Giegold sie nun als offizielle Parlamentsanfrage eingereicht. Ich bin gespannt auf die Antworten.
Derweil mischt sich die EZB aber auch aktiv in die Politik ein: So sind die Möglichkeiten, unter denen sich das griechische Finanzsystem heute über die EZB liquide halten kann sehr viel schlechter als es 2012 in vergleichbarer Situation unter der ersten Regierung von Antonis Samaras war (dieser Umstand war einer der Hauptpunkte in dem Brandbrief von Tsipras an Merkel Mitte März. Viel genaueres hier hinter der Paywall der FT, zumindest etwas Genaueres sonst hier bei der Welt).
Die EU-Kommission, dritte der Troika-Institutionen, ist im Prinzip die einzig demokratisch legitimierte, obwohl auch hier (wie zum Beispiel grandios von Schumann in seinem schockierenden Film „Troika – Macht ohne Kontrolle“ dokumentiert) die Beamtenebene in bizarrer Übertretung ihrer Kompetenzen agiert. Dass politische Vorgaben diese Frauen und Männer nur bedingt aus dem Takt bringen wird aber schon deutlich, wenn man ihre Programme tatsächlich einmal liest. So finden sich im ersten „Economic Adjustment Programme for Greece“ abgesehen von den absurd falschen Annahmen über den Einfluss des Programms auf die Realwirtschaft zum Beispiel Punkte zu Arbeitsmarktreformen, die aus heutiger Sicht wie Hohn klingen. Punkt 26 erklärt, wie Lohnsenkungen und die Abschaffung von Arbeitnehmerrechten zu neuen Jobs führen, auch mit besonderem Blick auf die Jungen (die Jugendarbeitslosigkeit liegt heute bei etwa 50 Prozent) und unter Punkt 29 die sachkundig erläuterte Erklärung, warum die Mindestlöhne im privaten Sektor nicht angetastet werden würden (kurz: Weil es schädlich und sowieso sinnlos wäre). Ein Jahr später wurden bekanntlich die Mindestlöhne gesenkt, was die Abwärtsspirale der griechischen Wirtschaft weiter verstärkte.
Heute weiß offenbar niemand mehr genau, wie es dazu kam, dass sich die Troika nicht an ihre eigenen Programme hielt, und besonders zwischen Griechenland und Deutschland wird viel mit Fingern gezeigt. Deshalb soll ein Untersuchungsausschuss in Griechenland einmal die Fakten von den Verschwörungstheorien trennen, was die Welt in einem inzwischen offenbar Fleisch gewordenen Reflex zu der Überschrift verleitet, „Athen sucht Schuldige für die Misere“. Manchen reicht für die Feststellung von Tatsachen offensichtlich ein Blick ins eigene Archiv – wenn es da steht, muss es ja stimmen. So verselbständigen sich Wahrnehmungen.
Politische Institutionen sind niemals einfach technisch, aber die hierzulande weitgehend unkritische Darstellung der Troika-Institutionen als solche, die einfach nur die Einhaltung von bereits ausgehandelten Verträgen überwachen sorgt dafür, dass jeder ihr Widersprechende automatisch als Vertragsbrecher wahrgenommen werden muss. Das ist es, was viele Medien mit der neuen griechischen Regierung machen: Um eine Diskussion um ihre Politik zu vermeiden, ziehen sie die Diskussion ins Unpolitische, ins Technische: Verträge sind einzuhalten; Die Regierung ist inkompetent (was man politisch ja kaum sein kann); Sie wollen „Reformen zurückdrehen“.
Die Wahrheit ist eine andere: Die Troika hat eine Politik vertreten, eine Ideologie, die in Wahrheit nirgends in Europa eine Mehrheit hat. Es gibt auch in Deutschland keine neoliberale Mehrheit. Es sind zwei unterschiedliche Dinge, ob man auf die Einhaltung von Verträgen pocht, oder ob man einem anderen Land eine Politik aufzwingt, und dann eine, die ganz explizit von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wird. Mit dem Mythos der rein technischen Eingriffe wird die Abschaffung der Demokratie verschleiert.
Das ist kein europäischer Weg.
Die CSU als Naturkatastrophe
In ihrem lesenswerten Buch Die Schock-Strategie: Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismuslegt Naomi Klein dar, wie Anhänger des Korporatismus mithilfe zum Beispiel des IWF Katastrophen nutzen, um Politik umzusetzen, die unter normalen Umständen am Widerstand der Bevölkerung scheitern müsste – nämlich einen radikalen Dreiklang von Kürzungen der Staatsausgaben, den Abbau von Arbeitnehmerrechten und der Privatisierung von Staatseigentum. All das lässt sich jeden Tag beobachten, im Moment zum Beispiel in Griechenland oder der Ukraine, die aktuell von Krediten des IWF abhängig sind.
Aber was ist mit Ländern wie Deutschland, in denen solche Katastrophenszenarien unwahrscheinlicher sind, potenzielle Gewinne aber hoch? Ich glaube, wir erleben gerade dieser Tage eine verdeckte Strategie zur schleichenden Privatisierung, ohne sie bewusst wahrzunehmen: In der absurden Einführung einer PKW-Maut für Ausländer, die deutsche Autobahnen benutzen.
Der Bundestag beschließt heute ein Gesetz, das angeblich niemand außerhalb der CSU will, das wahrscheinlich gegen europäisches Recht verstößt und von dem nicht einmal klar ist, ob der bürokratische Aufwand nicht potenzielle Gewinne sofort wieder auffrisst. Medien beschreiben das halb belustigt, halb verärgert.
Ich glaube nicht, dass der Hauptgedanke hinter dem Gesetz tatsächlich ist, dass (wie SpOn schreibt) „im bayerischen Landtagswahlkampf 2013 wohl ein paar angeheiterte Bierzelt-Bayern gejohlt haben, als die CSU ihnen versprach, endlich die Ösis abzukassieren, wenn sie die deutschen Autobahnen benutzen.“ Für so absurd halte ich deutsche Politik dann doch noch nicht. Die Maut ist zunächst einmal ein Einstieg in das „Verursacherprinzip“, also die ursprünglich grüne Forderung, dass für Autobahnen der bezahlt, der sie vornehmlich nutzt*. Verkehrsminister Dobrindt (CSU) sprach heute im Bundestag schon von einem „Systemwechsel“ hin zur „Nutzerfinanzierung“. Von hier ist der Schritt nicht mehr weit zu Straßenbau in „Private-Public-Partnerships“, wie sie zum Beispiel die CSU-Heimat Bayern vorantreibt, in denen Teile der Infrastruktur zunächst halb- und später ganz privat betrieben werden. Das ist, was folgen wird: private Straßen, die mit Profit betrieben werden.
Ich bin nicht grundsätzlich gegen Privatisierungen, auch wenn ich skeptisch bin, dass Infrastruktur dem Gemeinwohl besser dient, wenn mit ihr Gewinn erwirtschaftet werden muss. Sicher gibt es in fast jedem Einzelfall gute Argumente dafür und dagegen. Ganz eindeutig fragwürdig finde ich, wenn Privatisierungen ohne breite Diskussion durch die Hintertür eingeführt werden, wie in diesem Fall – und die Medien sich durch eine obskur argumentierende Partei wie die CSU von dem ablenken lassen, was die eigentliche Geschichte hinter dem neuen Gesetz wäre. Die Opposition scheint derweil ohnehin zu sehr damit beschäftigt, sich daran abzuarbeiten, dass dieses Gesetz eine „Niederlage für Merkel“ wäre. Es ist aber vor allem eine Niederlage für die Bürger und Steuerzahler, die ihre Infrastruktur in naher Zukunft möglicherweise überbezahlen werden müssen, um sie für Investoren profitabel zu machen. Wir werden das spätestens dann sehen, wenn der versprochene Ausgleich für deutsche Autofahrer über die verminderte KFZ-Steuer wieder kassiert wird, die Autobahn-Maut aber bestehen bleibt – wovon ich ausgehe.
Darüber sollten wir reden. Und darüber, dass Naomi Klein am Ende wahrscheinlich doch recht hat: Es braucht eine Katastrophe, um so etwas durchzusetzen, zum Beispiel die CSU.
*Ich halte das übrigens für ein dünnes Argument, weil zum Beispiel auch jeder, der im Supermarkt einkauft, die Autobahnen für die Transporte zum Supermarkt nutzen lässt, aber das ist ein anderes Thema.
Kontextfreie Highlightfakten zur Eurokrise (1)
Zum Thema „aufgeblähter Staat“, die Staatsquoten (hier Staatsausgaben vs. BIP) von Griechenland und Deutschland im Vergleich. Bis zur Lehman-Krise war Griechenland regelmäßig deutlich unter Deutschland. Überrascht?
source: tradingeconomics.com
Die Sache mit dem Finger: Varoufakis bei Jauch / aktualisiert
Die große Tragödie ist, dass alle nur über diesen Finger reden werden. Yanis Varoufakis hat spannende und richtige Dinge gesagt bei Günther Jauch am Sonntag, aber eben auch eine, die entweder völlig falsch oder zumindest so dämlich missverständlich war, dass der Abend am Ende seinen Gegnern möglicherweise mehr nützen wird als ihm und der Sache der neuen griechischen Regierung.
In der Sendung hielt Günther Jauch ihm vor, er würde fordern, Griechenland solle seine Schulden ganz einfach nicht bezahlen und Deutschland den Mittelfinger zeigen, und er spielte ein Video ein, auf dem Varoufakis 2013 zu sehen war, wie er genau das tat.
Sprecher: Varoufakis will den Griechen neues Selbstvertrauen geben …(kurze Einblendung: Mai 2013)
Varoufakis: Griechenland sollte einfach verkünden, dass es nicht mehr zahlen kann …
Sprecher: … und steht für klare Botschaften. Besonders an Deutschland.
Varoufakis: … und Deutschland den Finger zeigen und sagen: Jetzt könnt ihr das Problem alleine lösen.
Dann leitete Jauch mit der Frage zu Varoufakis über
Jauch: Der Stinkefinger für Deutschland, Herr Minister. Die Deutschen zahlen am meisten, und werden dafür mit Abstand am meisten kritisiert. Wie passt das zusammen?
Varoufakis widersprach heftig: Er habe nie jemandem den Finger gezeigt, das Video müsse falsch sein, „that video is doctored“, für mich zumindest klingt das so, als behaupte er, das Video müsse sogar gefälscht sein, der Finger quasi hineinmontiert.
Ich glaube, das Video ist authentisch. Allerdings hat Varoufakis in einem entscheidenden Punkt trotzdem recht: Er fordert in diesem Video nicht, „Deutschland den Finger zu zeigen“ und die Schulden nicht zu bezahlen, sondern er fordert im Gegenteil ganz andere Lösungen für die Euro-Krise (nämlich dieselben, die er heute auch fordert) – aber er rekapituliert im Rahmen einer Frage-und-Antwort-Session zu seinem Buch im Mai 2013 seine Position von Anfang 2010, also seine Forderung von VOR irgendwelchen Hilfskrediten. Er zeigt nicht den Finger, sondern sagt, er habe drei Jahre früher von anderen in einer anderen Situation gefordert, sie sollten den Finger zeigen. Das ist ein Unterschied, sogar ein entscheidender. „Damals hätte man sollen“ und heute fordern sind zwei vollkommen unterschiedliche Dinge, wenn sich in der Zwischenzeit die Fakten geändert haben – zum Beispiel durch den größten Kredit der Menschheitsgeschichte. Oder so.
So wie Jauch das Video zeigt ist es tatsächlich falsch. Wenn Varoufakis mit „doctored“ aber gemeint hat, das Video wäre gefälscht, dann liegt er ebenfalls daneben. Die Jauch-Redaktion hat das Video in einen falschen Kontext gestellt: Varoufakis hat den „griechischen Default innerhalb des Euro“ nicht 2013 gefordert, als Deutschland Hilfskredite gewährt hatte, sondern 2010, als der noch möglich war. Damit wäre „die Deutschen zahlen am meisten“ nie Realität geworden und Jauchs ganze Frage hätte keinen Sinn mehr ergeben (ja, korrekt, hat sie so dann auch nicht). Inzwischen hat der für Jauch zuständige NDR-Fernseh-Chefredakteur Andreas Cichowicz auf Twitter auch zugegeben, dass der Kontext zur Frage besser gewesen wäre. Ich würde sogar sagen, er war notwendig.
Vor diesem Hintergrund ist es inhaltlich richtig: Varoufakis hat nie Deutschland den Finger gezeigt und das Video ist seines Kontextes beraubt, also auch doctored.
Ich nehme allerdings schwer an, dass diese Tiefe der Differenzierung bei BILD-Lesern (und erst recht BILD-Mitarbeitern) eher nicht ankommen wird.
Nachtrag: Am Montagabend bestätigt Varoufakis auf Twitter, was ich vermutet hatte: Er postet das „undoctored“ Video, in dem die Szene drin ist (bei Minute 40:32). Offensichtlich meint er mit „Video“ den Einspieler und den falschen Kontext. Ich wünschte, er hätte das gleich klarer gesagt (oder es wäre nicht in der Drei-Wege-Übersetzung verschütt gegangen).
And here is the 'undoctored' by the unscrupulous media's video: https://t.co/WZ3ixfKHC5
— Yanis Varoufakis (@yanisvaroufakis) March 16, 2015
PS. Noch einen Tick schöner steht es bei Stefan Niggemeier.
DIE WELT möchte lieber nicht, dass Griechen wählen
Vor den letzten Parlamentswahlen in Griechenland im Juni 2012 gab es mehr oder weniger subtile Versuche aus Deutschland, dem griechischen Wahlvolk deutlich zu machen, dass es bloß nicht die „Linksradikalen“ (was die in Deutschland gängige und irreführende Übersetzung von „Koalition der Radikalen Linken“ ist) wählen dürfe. Bundesfinanzminister Schäuble warnte, dass alles andere als der bereits beschlossene Sparkurs sowieso nicht infrage käme, und viele griechische Wähler verstanden das als Drohung, im Falle eines Wahlsieges der Linken drohe Griechenland der Rauswurf aus dem Euro.
Nun wird der Sparkurs seit Jahren umgesetzt und hat katastrophale Folgen mit sich gebracht. Man könnte sagen, die Voraussagen aller Fachleute außerhalb vom IWF und den Wirtschaftsressorts von WELT und Focus haben sich bewahrheitet. Weil angesichts dieser Tatsachen subtile Drohungen offensichtlich nicht mehr helfen, greift man bei der WELT jetzt offen zu den Waffen und fordert die europäischen Regierungschefs auf, endlich aggressiv das griechische Wahlergebnis zu beeinflussen.
Aufmacher auf Welt.de war folgerichtig am Nachmittag ein Kommentar des Wirtschafte-Ressortleiters Olaf Gersemann, der schon in der Überschrift fordert:
Nochmal zum Genießen: Die Euro-Länder müssen den Griechen (also: den griechischen Wählern) mit Rauswurf drohen, wenn sie falsch wählen? Diese nervige Demokratie muss denen im hypermodernen WELT-Newsroom schon gewaltig auf die Nerven gehen. Sowas geht online?
Abgesehen davon, dass das die Verträge gar nicht zulassen: Ich könnte Olaf Gersemann die völlige Unkenntnis des griechischen Reformprozesses einigermaßen verzeihen, obwohl ein klügerer Mensch an seiner Stelle dann vielleicht gar nicht drüber schreiben würde. Die dickhodig-antidemokratische Haltung ist schon überragend ekelhaft. Aber dass es jemand tatsächlich fertigbringt, die anstehenden Neuwahlen in Griechenland zu kommentieren, ohne mit einem einzigen Wort auf die Lage in Griechenland einzugehen, ist so absurd menschenverachtend, dass es mich ernsthaft schockiert.
Wer DIE WELT verstehen will, muss sich offensichtlich möglichst weit von der Welt entfernen.
Ähm, nein?
Warum so viele Menschen in ihrem Job unglücklich sind
Beim Reporter-Forum durfte ich in diesem Jahr ein Mini-Impulsreferat geben. Das Oberthema war „Wie wir arbeiten wollen“, deshalb habe ich über die Ideen gesprochen, die Grundlage meines Jugendbuches Werde das, was zu dir passt!, Vom Traum zum Berufsind: Die Mythen Begabung und Tätigkeit.
Bitteschön.
Michalis Pantelouris: „Werde das, was zu dir passt“ from reporterforum on Vimeo.
Filter-Bubble von innen: Ich sag jetzt auch was zu Krautreporter
Wenn meine internen Berechnungen stimmen dürfte irgendwann gestern Nacht der Moment gewesen sein, an dem jeder einzelne Pixel der Krautreporter-Seite in seiner Form, seinem Inhalt und auf einer philosophisch-politischen Ebene kritisiert wurde. Das muss ein Rekord sein!
Ich habe das möglicherweise nicht in allen Einzelheiten verfolgt, aber nach allem, was ich gelesen habe, leidet das Projekt an
- einem scheiß Namen
- schlechter Technik*
- zu wenig Frauen
- zu wenig Inhalten
- zu wenig Journalisten mit Migrationshintergrund
- einer lieblos gestalteten Seite
- an zu unbekannten Autoren
- an zu wenig (kommuniziertem) Konzept
- merkwürdigen Verlinkungen von Autoren
- überhaupt merkwürdigen Autoren
- einer doofen Schrift
- verkackter Bezahltechnik
- falscher Kommunikation z.B. auf Facebook
- doofer Kommunikation z.B. in den Erklär-Videos
- mangelnden (kommunizierten) Goodies für Mitglieder
- mangelndem Enthusiasmus
Ich erhebe hier keinen Anspruch auf Vollzähligkeit. Ich will auch nicht als hundertster untersuchen, welche Kritik berechtigt ist und welche nicht. Ich würde allerdings festhalten wollen: Dem ersten Anschein nach ist das (noch nicht erschienene) Krautreporter-Magazin möglicherweise nicht perfekt.
Dass das für einige viele offenbar einer Katastrophe gleichkommt, liegt offenbar an einem Gedanken, den Thomas Knüwer in die Worte packt
Die Krautreporter stehen, gerade weil bekannte Namen unter ihnen sind, eben auch in der Verantwortung: Wenn sie scheitern, dürfte es auf absehbare Zeit keine, zumindest aber weniger journalistische Projekte ohne Konzernbeteiligung geben.
Und obwohl das ein eher butterweicher Satz ist („dürfte es auf absehbare Zeit […] weniger journalistische Projekte […] geben“ ist jetzt eher kein Katastrophen-Szenario), halte ich ihn – oder vielleicht besser: das Denken, das er (re-)präsentiert – für falsch.
Zum Stand heute haben die Krautreporter trotz aller ihrer möglichen Fehler die Bereitschaft von bisher knapp 6000 Menschen errungen, zusammen 360.000 Euro für Journalismus auszugeben. Das mag gemessen am selbstgesetzten Ziel von 15.000 Unterstützen und 900.000 Euro zu wenig sein – wenn das aber nicht, auch im Fall des möglichen Scheiterns der Krautreporter, noch mehr Journalisten darauf bringt, in absehbarer Zeit mit ihren guten Ideen neue Businessmodelle zu versuchen, dann sind das Problem sicher nicht die Krautreporter, sondern mangelnde Ideen.
Um es mal klar zu sagen: Ich halte Krautreporter für einen riesigen Erfolg.
Da draußen gibt es, nun nachgewiesen, hunderttausende Euro, die gern für guten Journalismus ausgegeben werden wollen. Warum dieser Nachweis ausgerechnet dazu führen soll, dass es in Zukunft weniger Bereitschaft (auf beiden Seiten) zu journalistischen Projekten gibt, ist mir ein Rätsel. Fällt denn niemandem was Geiles ein, das für 300.000 zu machen ist?
Insofern wundert mich die Heilserwartung, die an ein Projekt gehängt wird, das aus meiner Sicht vor allem ein völlig legitimes Experiment ist; Das nicht ohne Konzept antritt, sondern mit einer These: „Guckt mal, was passiert, wenn Journalismus unter okayen Bedingungen gemacht wird – wir glauben nämlich, Ihr werdet das mögen!“ Journalismus-optimierung in relativer Sicherheit und ohne Renditedruck – das reicht unter anderem mir dazu, 60 Euro dafür auszugeben. Per Kreditkarte. Und das, obwohl im Moment weder die vollständige Gleichberechtigung der Frauen noch die proportional faire Berücksichtigung von Journalisten mit Migrationshintergrund sichergestellt sind.
Oder, um es einmal so zu sagen: Ich glaube nicht, dass Krautreporter jemals alles können wird. Ich glaube aber, dass sie bestimmte Sachen ganz besonders gut können werden, und die sind locker die 60 Euro wert. Und ich hoffe, dass Krautreporter nicht das einzige großartige Journalismus-Projekt bleibt, sondern dass da viele folgen – in der Masse dann auch inklusive der Lösung aller Probleme von der Diskriminierung bis zu den Zahlungsmodalitäten.
Zunächst bin ich aber dankbar, dass einer einfach mal angefangen hat.
Wenn Sie mir also bitte folgen wollen, zu den Krautreportern geht es hier entlang.
*PS. Dieser Mann hat sicher recht:
@MichPant Meine Artikel gerade mit "schlechter Technik" zu verlinken ist etwas amüsant. War dies doch der Punkt den ich zugebilligt habe. ^^
— Steve Rückwardt (@SteveRueck) May 30, 2014