Was guckst du?

Es ist das große Rätsel, und es zu lösen ist eine der Kernfragen im Journalismus: Was will eigentlich „der Leser“? Viele Jahre lang haben Magazin- und Zeitungsmacher ihre eigenen Theorien zum Thema gefunden und gelehrt, und in einem überschaubaren Markt auch Erfolge damit gehabt. Jetzt, so scheint es zumindest, erodieren viele dieser Theorien, verlieren Zeitschriften Leser oder gleich die Geschäftsgrundlage und im Internet bewegen sich die Leser ganz anders, scheinen nicht das zu lesen, was sie doch in den Zeitschriften noch so gern hatten und überhaupt haben die Verantwortlichen vieler Medienmarken den Eindruck, die Konsumenten von ihren Printtitel und von deren Online-Ablegern sind zwei völlig unterschiedliche Gruppen, die sich kaum überschneiden. Leser sind rätselhafter denn je, scheint es.
AOL glaubt offenbar, sie hätten jetzt eine Lösung für das Problem gefunden: Roboter durchforsten das Internet nach den populärsten Anfragen. Ein Redakteur postet dann einen Auftrag auf einer Seite, auf der sich freie Mitarbeiter (Texter, Fotografen und Videofilmer) registrieren lassen können, um für AOL zu produzieren (die noch zu launchende Seite ist seed.com). Damit beginnt offenbar, was der Branchendienst Meedia ein Rattenrennen nennt: Die schnellste Geschichte zum Thema wird von einer Maschine auf Rechtschreibung, Obszönitäten und daraufhin geprüft, ob sie nicht einfach kopiert ist. Dann sieht sie sich noch einmal der Redakteur an – und schon steht sie auf AOL, im besten Fall nur Minuten, nachdem sie in den Suchanfragen auftauchte. Es ist nicht schwer vorherzusagen (wie es unter anderem die Kollegen von Slate.com tun), dass AOL damit in etwa die schlechteste „Content“-Seite der Welt baut: Blitzschnell und billig produzierte Inhalte ohne eigene Informationen (es gibt schon zwei Beispiele, die ähnlich funktionieren (demandmedia.com und associatedcontent.com). Das Bizarre daran ist: Diese Seiten generieren Traffic, Anzeigenerlöse und im Prinzip gar nicht so unzufriedene User (eine ausführliche Geschichte die das Elend beschreibt steht auf wired.com). Wer wissen will, wie man einen Hummer isst oder seine Hände wegen der Grippewelle desinfiziert, der ist da genau richtig. Er bekommt genau, was er will. Kann das falsch sein?
Es ist ein sehr kaufmännisches Prinzip, möglichst billig und schnell eine bestehende Nachfrage zu befriedigen. So ist Kapitalismus. Und in Wahrheit sind viele der Überlegungen vieler Verlage zu Sparplänen, Synergien und ähnlichen Strategien des Augenblicks nur Nuancen dieser Idee. Der Leser will dies oder das, also geben wir es ihm. Es gibt Schlagworte dafür. Es gibt zum Beispiel kaum einen Verlag, in dem nicht irgendein Verlagskaufmann herumläuft der predigt, der entscheidende Satz der im Namen des Lesers zu erfüllen wäre sei: „What’s in it for me?“ – Was ist für mich drin? Welchen Nutzen habe ich davon?

Bei dem AOL-Modell scheint die Antwort klar: Menschen suchen Infos zu einem aktuellen Thema, also kriegen sie genau die, die ihre Suchanfrage beantworten. Die Aufgabe der meisten Journalisten wäre dann, möglichst genau die Frage zu finden, die sich möglichst viele Menschen stellen – und sie zu beantworten. Das ist die gängige Theorie. Nach diesem Prinzip werden die meisten Zeitschriften heute gemacht. Und sie gehen dabei ein. Denn natürlich ist das nur die Hälfte des Jobs – oder sollte es sein. Denn etwas anderes ist genau so wichtig, auch wenn die BWLer in den oberen Etagen noch keinen Weg gefunden haben, es zu berechnen: Leser wollen lesen.
Das klingt unerträglich simpel und dumm, aber wenn wir nur einen Moment darüber nachdenken, dann haben wir diese simple Erkenntnis seit langem immer weiter vernachlässigt. Unsere Dienstleistung – Journalismus – hat nur ein einziges Ziel: Wir versorgen Menschen mit Informationen um sie an der Welt teilhaben zu lassen. Das tun wir nicht, weil wir gute Menschen sind, sondern weil Menschen das Bedürfnis danach haben: Jeder von uns will an der Welt teilhaben, nicht immer an der gleichen Welt, nicht auf die gleiche Art, aber an einer Welt (und wir haben ja in Wahrheit nur eine, also irgendwie doch an DER Welt). Nun gibt es Informationen, die können glatt und eindeutig für eine Teilnahme an der Welt sorgen: Wie esse ich einen Hummer, was für Schuhe soll ich anziehen, wie spare ich Strom. Die „What’s in it“-Informationen. Berichte über Demonstrationen im Iran sind da schon schwieriger zu erklären, aber ihr Sinn und Zweck wird gerne umschrieben mit „auf dem Laufenden sein“ wollen und „mitreden können“. Soziale Währung ist das Stichwort. Aber auch das ist nur die halbe Wahrheit. Denn tatsächlich ist es viel einfacher: Die Information, das Lesen, ist kein Schritt auf dem Weg zur Teilhabe an der Welt, es ist schon die Teilhabe selbst. Wir haben uns nur angewöhnt, alles, was echtes Leben ist, auf einen unbestimmten Zeitpunkt in der Zukunft zu schieben. Auf „wenn ich einmal Zeit habe“, auf „wenn die Kinder aus dem Haus sind“ oder „in der Schule“, auf „wenn ich dünn bin“ oder einfach auf irgendwann. Im Zuge dessen betrachten wir viele Dinge als Ersatz: ein Buch lesen ist dann oberflächlich betrachtet nicht „echtes Leben“, und Fußball gucken nicht so gut wie selber spielen.
Natürlich ist das falsch. Natürlich ist lesen auch leben und gucken auch teilnehmen. Lesen selbst ist schon die Teilhabe. Das heißt nicht, dass die Informationen in einer Zeitschrift nicht auch einen „Benefit“ in der Welt jenseits des bedruckten Papiers haben dürfen und sollen. Aber der erste, echte Benefit muss schon die Lektüre selbst sein. Wenn wir glauben, wir würden eine Bedienungsanleitung für das Leben liefern können, sollen oder müssen werden wir feststellen, dass uns dafür niemand braucht.
Aber genau das ist es, was AOL nun versucht, und im Zweifel werden sie damit eine Menge Klicks generieren, denn tatsächlich antworten sie ja auf eine reale Nachfrage. Aber ihre Antwort ist nur die halbe Antwort.
Ich bin der Überzeugung, dass die tatsächlich wenigen aber doch vorhandenen journalistischen Erfolgsgeschichten von Magazinen heute vor allem da zu finden sind, wo die Hefte selber Teilhabe an der Welt und dadurch Zugehörigkeit vermitteln. Ich glaube das legendäre Landlust funktioniert so, ich glaube Neon funktioniert so, ich glaube die Bravo funktioniert so. Und es gibt keinen Grund, warum es anderen nicht gelingen sollte. Leser wollen schließlich lesen.

[audio:was_guckst_du.mp3]

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3 Antworten auf „Was guckst du?“

  1. …und Leser wollen überrascht werden: von Themen, Zugängen zu diesen und Gedanken. All das kann ein Modell wie das von AOL nicht leisten.

  2. Ich bin sicher, dass das der Leser will. Aber unsicher, ob der Leser weiß, dass er das will. Denn wüsste er es, könnte Journalismus nicht mehr überraschen. Weshalb das mit dem Einfordern auch schwierig werden könnte. Vermutlich freut sich der Leser über jede einzelne, kluge Geschichte wie auch über jedes kluge, interessante Magazin – gleich ob auf Papier oder digital. Da sich der Leser aber – sofern er nicht in dem Bereich tätig ist – viel weniger mit der Branche beschäftigt, als Journalisten manchmal denken (vielen Lesern also Verlagsstrukturen und Autoren unbekannt sind und der vorliegende Inhalt ohne weitere Interessen dafür, was hinter der Produktion steckt, genutzt wird), merkt er auch nicht, was fehlt. Der Leser weiß ja nicht, was er haben könnte…

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