Die Inoffizielle BILD-Kampagne

Ich musste, ehrlich gesagt, lachen, als ich zum ersten Mal gesehen habe, dass die Bild-Zeitung ihre Kampagnenberichterstattung gegen den DSDS-Kombattanten Menowin Fröhlich in großen Lettern zur „Offiziellen Bild-Kampagne“ deklarierte – unter dem Motto: „So ein Typ darf nicht Superstar werden.“ Bild sagt: nein. Auch wenn das dem einen oder anderen „solchen Typ“ schon gelungen sein soll.
Die lustige Implikation ist natürlich, dass es möglicherweise auch schon inoffizielle Bild-Kampagnen gegeben hat. Aber ich komme immer mehr zu dem Eindruck, dass es wahrscheinlich sehr viel weniger sind, als man denkt. Denn bewusste Kampagnen sind gar nicht nötig, wenn man es schafft, bei jedem Thema das richtige Mind-Set zu vertreten.
Deutschland sucht den Superstar ist zum äußeren Symbol eines scharfen Sozial-Darwinismus geworden: Das Format feiert das Sich-durchsetzen-wollen-um-jeden-Preis, das Gewinnerprinzip, und das in einer nie gesehenen Härte. Man kann so etwas gut finden oder schlecht, aber schon die Terminologie, die in der Sendung benutzt wird, zeigt, dass es um mehr geht als den Sieg in einem Gesangswettbewerb.

Stefan Niggemeier hat sich die Arbeit gemacht, den Schlussmonolog von Marco Schreyl im Finale von DSDS zu transkribieren. Und Schreyl sagt unter anderem das:

Wenn sich der Sieger dieses Kampfes nicht dumm anstellt, wird er für lange Zeit ausgesorgt haben. Der Sieger bei DSDS bekommt: all das! Der Verlierer: nichts! Der Sieger steht im Licht. Der Verlierer steht für immer in seinem Schatten. Und das ist ein Schicksal, mit dem sich der Verlierer wahrscheinlich niemals versöhnen wird.

Prägnanter kann man es wohl nicht in Worte fassen.

Dabei tritt ein Effekt ein, den man oft an sich selber beobachten kann, unter anderem dann, wenn man „die Bild ironisch liest“: Man fragt sich, ob es tatsächlich Menschen gibt, die das alles ernst nehmen. Und wie dämlich sie dafür sein müssen. Glaubt irgendjemand dieses aufgeblasene, pathetische DSDS-Getöse?

Es wirkt wie ein Rätsel, aber die Antwort ist erstaunlich eindeutig. Das Problem ist: Die Antwort ist für exakt die Menschen, die sich diese Frage stellen, nicht nachvollziehbar. Denn die Bild genau wie DSDS zielen auf einen völlig anderen Verständnisrahmen.

Wir haben gelernt zu glauben, dass Aufklärung funktioniert. Unser Verständnisrahmen funktioniert so: Wenn jemand alle Informationen zur Verfügung hat, und diese Informationen eindeutig sind, dann wird der Mensch auch richtig entscheiden. Aber die Realität überrennt uns pausenlos mit dem Beweis des Gegenteils. Als Beispiel: Mitten in der schwersten Krise der unregulierten Marktwirtschaft erzielt die FDP, die Partei des unregulierten Marktes, ein Rekordergebnis. Die Frage ist: Wie kann das sein? Kann es sein, dass Menschen gegen ihre eigenen Interessen wählen? Die Antwort ist: absolut. Und es lohnt sich, die Gründe zu untersuchen. Denn die Aufklärung, wie wir sie verstehen, funktioniert viel zu oft nicht.

Der Linguist und (doofes Wort) Kognitionswissenschaftler George Lakoff weist in seinem Buch The Political Mind nach, dass wir bestimmten Fragestellungen mit bestimmten Denkarten begegnen – und dass diese viel weniger auf bewusstem Nachdenken oder dem Abwägen von Informationen beruhen, als wir es gerne hätten. Sie sind unterbewusst und so lange angelernt, dass sie quasi miteinander verlötet sind. Denn wir denken einerseits in Metaphern und verbinden andererseits Dinge miteinander. Und wir belegen jede Metapher mit einem Wert – sie ist gut oder schlecht. Es braucht ein paar Schritte, um das zu erklären, aber ich verspreche, es lohnt sich.

Zum Beispiel: Wir halten jemanden mit einer „warmen Persönlichkeit“ für gut. Ein kühler Mensch ist schlecht. Das ist eine Metapher, und sie ist gelernt: Wenn unsere Mutter uns in den Arm genommen hat, dann war es warm. Und treten Dinge oft genug gleichzeitig auf, dann verlöten wir sie unbewusst miteinander. Unser Verständnisrahmen ist: warm ist gut, kalt ist schlecht.

Nun sind nicht alle Dinge für jeden gleich: Lakoff erklärt das Verständnis für konservative und progressive Verständnisrahmen letztlich mit unserem Verständnis für die erste und am tiefsten gelernte Form von Regierung, die wir erleben: unsere Familie (und dabei entscheidet nicht unsere eigene Familie unser politisches Verständnis, sondern unser Verhältnis dazu. Man kann die Art, wie man erzogen wurde, auch mehr oder weniger konsequent ablehnen). Wir verstehen unsere Gemeinschaft in Familienmetaphern, und das Regierungsoberhaupt als Vaterfigur (selbst Merkel, aber dazu kommen wir noch). Und es gibt ganz unterschiedliche Familienbilder.

Das konservative Familienbild ist das des strengen Vaters. Er entscheidet, ihm ist zu gehorchen, und das Gehorchen zahlt sich aus. Disziplin, Fleiß und Leistung führen zum Erfolg. Ungehorsam und Widerspruch führen ins Verderben. Im konservativen Veständnisrahmen ist Disziplin also moralisch gut, Widerspruch schlecht. Die Kinder sind dem Vater gegenüber zur Rechenschaft verpflichtet.

Das progressive Familienbild ist das der unterstützenden Familien, in der gleichberechtigte Partner gemeinsam entscheiden und in der die Verantwortung geteilt wird. Hier sind auch die Eltern (Geschlechterrollen lösen sich auf) gegenüber den Kindern in der Verantwortung stehen. Es ist im Prinzip ein Modell der innerfamiliären Demokratie, in der jeder eine Stimme hat. Gemeinsamkeit ist gut, Empathie ist gut, Egoismus dagegen schlecht.

Wir alle haben verschiedene Verständnisrahmen, kaum jemand ist nur konservativ oder nur progressiv, aber wir können jede Frage nur mit jeweils innerhalb eines Rahmens verstehen und moralisch beantworten. Noch einmal: Was wir in welcher Frage gut finden, was wir für moralisch richtig halten, hängt nicht von den Informationen ab, die wir bekommen – sondern damit, welchen Rahmen wir mit der Frage verbinden. Die Frage ist, welchen Wert wir mit welchem Rahmen verlötet haben.

In diesem Sinne ist DSDS, wie Marco Schreyl es beschreibt, ein zutiefst konservatives Format: Leistung, Disziplin und Fleiß, unter den Augen des strengen Dieter Bohlen, führen zum Erfolg. Wenn Bild entgegen all unserer Erfahrung mit Popkultur schreibt, dass ein lügender, gewalttätiger oder möglicherweise gar Drogen konsumierender Halbsympath, der lieber feiert als etwas Vernünftiges zu tun, kein Star werden darf (sorry, Keith Richards!), dann entspricht das exakt dem konservativen Verständnisrahmen. Wer in der Gruppe der ursprünglich angetretenen Sänger der beste Teamplayer war, wer am meisten für die Gruppe getan hat, spielt überhaupt keine Rolle. Es gilt: Disziplinlosigkeit + Faulheit = kein Erfolg = schlecht.

Das ist die Offizielle Bild-Kampagne. Und sie ist aus meiner Sicht nicht angreifbar. Das kann man alles finden. Und trotzdem offenbaren sich darin die Probleme, über die Menschen grübeln, wenn ihnen ein Medium das unbestimmte Gefühl gibt, nicht die Wahrheit zu sagen, obwohl die dargestellten Fakten im Prinzip alle stimmen (und das bezieht sich keineswegs nur auf die Bild, sie ist nur so groß, dass sie sich als Beispiel am besten eignet). Das ungute Gefühl kommt daher, dass sich der Leser im für ihn falschen Rahmen bewegt. Es wäre zum Beispiel kaum denkbar, dass die Bild-Zeitung eine Kampagne zugunsten des verurteilten Schlägers gestartet hätte (vielleicht unter dem Motto „Resozialisierung“?) – sie wäre aus dem Rahmen gefallen.

Die Probleme sind erstens, dass die Wertung „schlecht“ eine moralische ist, und dass zweitens diese Rahmen – wenn sie einmal etabliert sind – auch in die andere Richtung funktionieren. Wer einmal akzeptiert hat, dass Disziplin und Fleiß zum Erfolg führen und der Erfolgreiche (weil er auf den „strengen Vater“ gehört hat) moralisch gut ist, der wird nicht umhin kommen, dem Erfolglosen unterbewusst Faulheit und Disziplinlosigkeit zu unterstellen und das moralisch verwerflich zu finden.

Wir erleben es pausenlos: Guido Westerwelle hat es (wenn nicht bewusst dann fahrlässig) geschafft, Hartz-IV-Empfänger zu faulen und damit moralisch schlechten Menschen abzustempeln. Das gleiche Schicksal traf gleich die gesamte griechische Bevölkerung im Zuge der drohenden Staatspleite. Und ohne Bushs Metapher vom „Krieg gegen den Terror“ wäre es wahrscheinlich unmöglich gewesen, Soldaten nach Afghanistan zu schicken, denn Terrorismusbekämpfung war bis dahin im Verständnisrahmen als Aufgabe für die Polizei und die Geheimdienste fest verankert. Das ist also die Inoffizielle Kampagne: Durch packende Metaphern den Verständnisrahmen so zu verschieben, das plötzlich die Ausnahme zur Regel wird, und der konservative Denkrahmen zur Grundlage der öffentlichen Diskussion. Wenn DSDS zur Metapher für das Leben wird, dann wird das Gemeinwesen von der Metapher des Gewinnens und Verlierens bestimmt – und jeder ist selbst schuld, wenn er es nicht packt.

In letzter Konsequenz ist es auch das, was Westerwelle offenbar versucht hat: Den Staat aus der Verantwortung für den Bürger zu nehmen, und im Gegenteil den Bürger verantwortlich zu machen für das Wohlergehen des Staates. So lange der Mythos aufrecht erhalten wird, dass jeder es aus eigener Kraft schaffen kann, ist auch jeder dafür verantwortlich, wenn er es nicht schafft. Im Zuge so einer Debatte wirkt jemand, der die ihm gesetzlich zustehenden Leistungen in Anspruch nimmt schon fast als als unverschämt. Es soll Hartz-IV-Empfänger gegeben haben, die Westerwelles Thesen zugestimmt haben. Und das ist verständlich: Er hat es praktisch geschafft, den Bezug von ALG II als moralisch falsch hinzustellen – und niemand ist gern schlecht. Da stimmt man lieber gegen seine eigenen Interessen.

Nun glaube ich nicht an objektive oder neutrale Medien und ich finde es nicht verwerflich, wenn ein Medium wie die Bild innerhalb eines konservativen Verständnisrahmens agiert. Man kann höchstens der progressiven Konkurrenz vorwerfen, dass sie zu doof ist, ihre Sicht der Dinge ähnlich effektiv zu vertreten. Worum es mir geht ist vor allem zu erklären, woher das Gefühl kommt, Geschichten in bestimmten Medien wären falsch oder tendenziös, obwohl die dargestellten Fakten richtig sind. Es geht dabei um eine Botschaft, die für Watchblogs wie den erfolgreichen Bildblog meist ungreifbar bleibt, weil sie sich nicht auf der Ebene von Fehlern oder bewusst einseitiger Berichterstattung abspielt, sondern unterbewusst.

Es hat aus meiner Sicht keinen Sinn, sich darüber zu ereifern, wie doof wohl viele Menschen sein müssen, um bestimmte Fernsehformate oder Zeitungen zu sehen und zu lesen. Sie sind es nicht. Sie werden nur innerhalb eines unterbewussten Verständnisrahmens abgeholt und (handwerklich gut) bedient. Diese Formate funktionieren, weil sie sich an dem orientieren, wie Menschen Informationen tatsächlich aufnehmen – und nicht an dem, von dem wir uns wünschen, dass es funktioniert. Meiner Meinung nach muss inzwischen, wo wir diese Zusammenhänge verstehen, verantwortungsvolles Medienmachen auch beinhalten, mit diesen Erkenntnissen umzugehen – und sie nicht nur denen zu überlassen, die behaupten, Erfolg in unserer Gesellschaft beruhe auf dem unerbittlichen Kampf Mann gegen Mann.

36 Antworten auf „Die Inoffizielle BILD-Kampagne“

  1. Aber ist nicht Bild gerade durch ihre Art der Berichterstattung prägend für den Rahmen in dem sie agiert? Also ist das Problem zyklisch bedingt und wäre das nicht zu kritisieren?

  2. @Xaerdys: Guter Punkt, und sicher auch richtig: Wenn man eine Metapher lange und intensiv genug benutzt, bestimmt sie den Denkrahmen (wie der erwähnte „Krieg gegen den Terror“). Aber muss das in einer Demokratie nicht Voraussetzung sein: Dass man seine Vorstellungen robust und zielgerichtet formuliert? Liegt es dann nicht eher daran, dass die anderen keine Bilder finden, die sich durchsetzen?

  3. Kluger Text, wirklich, danke! Kannst Du so etwas eigentlich auch woanders für Geld veröffentlichen?
    Ich will aber trotzdem widersprechen. Denn:
    „Man kann höchstens der progressiven Konkurrenz vorwerfen, dass sie zu doof ist, ihre Sicht der Dinge ähnlich effektiv zu vertreten“
    (aus dem Text)
    „Liegt es dann nicht eher daran, dass die anderen keine Bilder finden, die sich durchsetzen?“
    (aus Kommentar 2)
    …das liegt ja wohl eher daran, dass „die progressive Konkurrenz“ oder „die anderen“ im Grunde einen ganz ähnlichen Verständnisrahmen haben, das aber lediglich subtiler offenbaren als BILD oder RTL. In auf dem so genannten Markt erfolgreichen Medien arbeiten durchweg entsprechende Menschen, mit einem entsprechenden Verständnisrahmen, von den Eigentümern einmal ganz zu schweigen. Da geht es ums Gewinnen, genauso wie bei der relevanten Zielgruppe (natürlich incl. derer, die zumindest vom Gewinnen träumen).
    Ich behaupte also: Es gibt diese progressive Konkurrenz überhaupt nicht – weil Geschäftsgrundlage, Personal, Unternehmer und Publikum fehlen.

  4. Ich fange mal mit was an, was gar nicht dein eigentliches Thema ist, aber weil es sich so nachhaltig durch deine Argumentation zieht, mag der Rechthaber in mir nicht Ruhe geben:
    „Mitten in der schwersten Krise der unregulierten Marktwirtschaft erzielt die FDP, die Partei des unregulierten Marktes, ein Rekordergebnis.“
    Meinst du nicht schon auf, dass du es dir mit diesem Zusammenhang ein bisschen zu leicht machst? Nicht nur, weil die FDP vor dieser Krise fast ein Jahrzehnt lang nicht mehr an der Macht war, sondern auch noch aus ein paar anderen Gründen? (Disclaimer: Ja, ich weiß, ich sehe auch nicht, dass die FDP gerade irgendwo besonders gute Politik machen würde. Aber darum gehts mir nicht.) Aber vielleicht deute ich da nur zu viel in eine Randbemerkung hinein…

    Auch bei deinen anderen Ausführungen (Ja, ich wollte auch noch was zum Thema sagen. Dauert nur bei mir manchmal ein bisschen.) bin ich nicht sicher, ob ich sie richtig verstehe, aber ich glaube, ich stimme dir da nicht zu. An der Bild-Zeitung ist ja nicht unbedingt widerwärtig, dass sie in einem… naja, sagen wir konservativen Verständnisrahmen agiert, sondern vielmehr wie sie das macht, nämlich bigott, unehrlich und unreflektiert und noch eine ganze Menge anderer Adjektive, die ich uns mal erspare. Sogar wenn dieser Zeitung nur Dinge schreiben würde, denen ich inhaltlich prinzipiell zustimme, wäre sie mir zuwider.
    Insofern finde ich, dass doch ein gehöriges Maß an Dummheit oder zumindest Blindheit dazu gehört, die Bild-Zeitung ernst zu nehmen.
    Oder?

  5. @jokahl: Ich fürchte, da ist sehr viel Wahres dran. Und es ist schon nostalgisch, daran zu erinnern, wie der Stern mit dem „Wir haben abgetrieben“-Cover einen Rahmen gesetzt hat. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt, und worum es mir geht ist vor allem, dass es keinen Grund gibt, sich von der Agenda bestimmter Kreise durchs Dorf treiben zu lassen. Es ist sogar dämlich, weil man sie innerhalb ihres Rahmens eben effektiv nicht widerlegen kann.

    @Muriel: Ich verstehe alle Argumente, aber ich würde gerne ein bisschen schärfer trennen. Vieles von dem, was du beschreibst, ließe sich unter Begriffen wie „Boulevard“ subsummeren, oder eben als Kampagne, und stellenweise auch als einfach nur ekelhaft. All das gibt es in der Bild (und Bigotterie gibt es in allen Medien). Aber unabhängig und oberhalb von all dem gibt es eine grundsätzliche Agenda, bewusst oder unbewusst, und ich glaube, dass man versuchen muss, ihre Wirkungsweise zu verstehen, weil sie so ungeheuer effektiv ist (und, wie gesagt, ich gestehe jedem Verlag und jedem Medium im Prinzip zu, dass es eine Agenda hat, weil ich noch mehr Angst vor Leuten habe, die glauben, sie wären objektiv). Ich wünsche mir eine offene, gerne auch harte politische Debatte in unserem Land. Ich glaube bloß, dass es sich lohnt, von denen zu lernen, die sie heute schon erfolgreich betreiben. Ich glaube, da stecken eine Menge Lehren drin, auch oberhalb des Ekligen.

  6. @mikis: Hm. Einen gewissen Erfolg kann man der Bild-Zeitung nicht absprechen, ja. Mir wäre es aber offen gestanden trotzdem lieber, wenn niemand von ihr lernen würde. In meinen Augen ist in diesem Stil (also dem Springer-Stil, nicht deinem) eine offene Debatte nicht möglich, sondern nur eine verlogene, unsachliche, geschmacklose… (Du weißt schon, das ginge noch eine Weile weiter) Debatte. Und wem nützte die was?

  7. In letzter Konsequenz ist es auch das, was Westerwelle offenbar versucht hat: Den Staat aus der Verantwortung für den Bürger zu nehmen, und im Gegenteil den Bürger verantwortlich zu machen für das Wohlergehen des Staates.

    Lustigerweise hat er damit die zu Liberalität gegenteilige Position eingenommen. Womit auch klar ist, dass Label, gerade im politischen Wirkbereich, ebenso funktionieren, wie im Beitrag beschrieben: sie haben keine inherente Bedeutung.*

    Das erklärt dann auch die zwei Strömungen, Begriffe in der öffentlichen Diskussion umzudeuten, die einen meinen, durch hübschere Wörter ginge es geschlagenen/ausgegrenzten Gruppen besser [‚Nicht der Mensch ist behindert, sonder die Gesellschaft behindert ihn!‘]. Die andere Gruppe re-definiert Wörter, auch und gerade gegen die dahinter stehenden Konzepte, um die Wertung umzudrehen [‚liberal‘ wird in den USA zum Schimpfwort]. Political correctness und Newspeak versuchen, die Realität zu verändern indem sie deren Beschreibung ändern.

    Kurzfristig klappt das, in Grenzen auch mittelfristig, langfristig nie – so blöd sind die Menschen nämlich nicht. You can fool all the people some of the time, some of the people all the time, but never all teh people all the time., wie ein bekanntes Mitglied der Republikaner mal sagte.

    *Ich teile Lakoffs Beschreibungen nur teilweise.

  8. @mikis: Klar, aber ich unterstelle mal, dass Du (i.S.d. Definition als mindestens halbwegs erfolgreicher Journalist) auch (nur) gewinnen willst, wie letztendlich alle, die diese Chance sehen – und das wollten auch die vom Stern.
    @muriel: Klar könnte man mit denselben handwerklichen, professionellen Mitteln in einem/für einen anderen Verständnisrahmen offen draufhauen. Gib einigen, die das können und wollen, Geld, und die machen das, kein Problem. Die Antwort, warum das nicht so ist, gibst Du selbst in Deinem Kommentar („Und wem nützte die was?“). Es gibt keinen Markt, kein Geld, kein Personal, keine (angemessen erfolgversprechenden) Unternehmungen und Unternehmer für so etwas. Also entweder kein (größeres) Publikum – damit wäre die Frage demokratisch o.k. abschlägig beschieden – oder am System stimmt was nicht. Ob das so ist, weiß ich auch nicht. Ich weiß aber auch, dass ich niemanden mit ernsthaft bis sehr ernsthaft Geld kenne oder von ihm wüsste, der in ein anderes Medium mit einem direkten oder indirekten Verständnisrahmen außerhalb derer investieren würde, die es derzeit auf dem Markt gibt.

  9. @ Muriel: Zur FDP schulde ich dir sowieso noch eine Antwort: Ich finde es schon bemerkenswert, dass in Zeiten, in denen eigentlich alle davon ausgehen, dass eine stärkere Regulierung zum Beispiel der Finanzmärkte nötig ist, die erklärte Deregulierungspartei ein Rekordergebnis einfährt. Und zur Debatte mit der Bild: Wir können uns in der Demokratie ja nicht aussuchen, mit wem wir diskutieren. Es sitzen alle mit am Tisch. Aber wir könnten durchaus Einfluss darauf nehmen, in welchen Rahmen wir diskutieren. Reden wir über einen „Krieg gegen den Terror“? Lassen wir uns in eine Debatte über Sozialmissbrauch treiben, den es natürlich gibt, aber der einen winzigen Schaden verursacht im Vergleich zum Beispiel zur Steuerhinterziehung – aber eine andere, schwächere Klientel betrifft? All das haben wir in der Hand. Aber es fällt auf, dass in sehr vielen Fällen das konservative Denkmodell die wirksameren Argumente vorträgt, obwohl sie inhaltlich nicht tragen.

    @Dierk: Everything’s gonna be alright! Right?

  10. @jokahl: Jetzt haben sich die Kommentare überschnitten, aber ganz kurz: Ich will gar nicht (nur) als Journalist gewinnen, ich will auch gleich eine gerechtere Gesellschaft …

  11. @mikis (10): Das wollen alle im Lippenbekenntnis (ohne Dir nur das unterstellen zu wollen), incl. BILD (vor allem die, mit ihren „Volks“-Produkten…) und Westerwelle. Aber was ‚gerecht‘ ist oder nicht, unterliegt eben auch dem Verständnisrahmen. Und der ist, ganz gesellschafts- (und damit medienübergreifend) gefasst (ich nehme Kritik und Korrekturen gern entgegen) nun einmal gegenwärtig der des Gewinners. Ich wüsste keine halbwegs einflussreichen Gegenbeispiele.

  12. @jokahl: da bin ich parteiisch, ich glaube, Westerwelle will es nicht … aber, klar, Demokratie ist ein Wettbewerb der Ideen, Journalismus leider zu oft ein Wettbewerb der Sensationen. Das geht oft nicht zusammen. Aber es nützt nichts, sich darüber nur zu ärgern. Man muss damit umgehen. Ich will das zumindest versuchen.

  13. @mikis: Wenn ich es richtig verstehe, willst Du auf ein gutes altes „Wir sind nicht allein“ hinaus (nicht mit uns beiden, meine ich, sondern allgemein). Aber nehmen wir an, das gibt es wirklich, sowohl parteilich als auch sensational i.S.d. oben zitierten Progressiven (was ja auch nur eine Schimäre sein könnte): Was nun tun?

  14. Ich würde übrigens einmal die Zeit umstellen – in den Kommentaren ist sie eine Stunde zurück – das irritiert.

  15. @jokahl: es wäre ein Anfang, wenn Journalisten erkennen und benennen würden, worum es bei einer Debatte wie der „spätrömischen Dekadenz“ wirklich geht. Ich glaube, auch viele Journalisten haben Angst, in moralischen Kategorien zu argumentieren. Dabei wäre es viel öfter notwendig.

    Und jetzt suche ich mal, wo man die Zeit umstellt ich lerne ja hier jeden Tag was Neues.

  16. @mikis: Ich will nicht rumnerven (und danke für die Zeitumstellung, aber wenn nicht, ist auch o.k.) und halte Deine Einlassungen ja für interessant und schlau. Aber wo ist denn nun für Dich der mediale Markt, der mit (von) einem Verständnisrahmen handelt, der Dich offenbar interessiert, z.B. bei der spätrömischen Dekadenz? Wenn so etwas keine Sau interessiert, einen freien und transparenten Markt vorausgesetzt, warum sich dann darum kümmern? Abgesehen davon, dass Du das ja machen könntest (außerhalb dieses Blogs), wenn dich einer dafür bezahlt. Ist ja nicht so, dass Dich grundsätzlich keiner drucken wollte.

  17. @jokahl: entschuldige, da hatte ich die Frage nicht ganz verstanden. Aber jetzt: ich glaube, dass zum Beispiel der Stern durchaus einen Markt hätte, wenn er kampagnenfähiger wäre und sich nicht selbst auf Gesundheitsthemen reduzieren würde. D waren ja schon Ansätze mit der Lidl-Geschichte u.ä. Was sie aber nicht schaffen, ist konsequent eine Agenda zu setzen. Vielleicht trauen sie sich nicht. Für mich und meinen persönlichen Markt als Autor ist das aber eher egal, weil ich meine Überzeugungen ja mitnehme. Ich arbeite ja für viele Verlage und habe keinerlei Berührungsängste. Ich glaube, es ist zweitrangig, wo man arbeitet, so lange man seinen journalistischen und persönlichen Überzeugungen treu bleibt. Ich arbeite ja unter anderem auch für Springer (für die WamS), wo ich wohl nicht im Mainstream stehe, aber es hat auch bisher weder jemand versucht, mir irgendetwas auszureden, oder auch nur andeutungsweise versucht, mir meine Kritik am Haus zu verbieten (allerdings bin ich auch nicht angestellt, ich weiß nicht, was dann wäre). Ich persönlich finde es wichtiger, was ich schreibe, als wo ich es schreibe (aber bevor die Frage aufkommt: ich kann mir tatsächlich nicht vorstellen, bei der Bild zu arbeiten. Aber ich habe auch dort Freunde, sogar sehr nette, denen ich meine Kritik allerdings deutlich mitteile. Manche geben mir in Einzelfällen sogar recht).

  18. @mikis: Bild generell verteufeln ist doch billig und würde ja nun auch wirklich nicht zur Zielrichtung Deines klugen Blogbeitrags passen – dem Verstehen des Verständnisrahmens von uns allen. Und was den Stern betrifft, das ist in der Tat ein Rätsel, habe ich auch schon öfter gedacht. Dessen Auflösung aber auch einfach sein könnte, dass der Markt ein engagierteres Auftreten wirklich nicht hergibt. Was auch am Verständnisrahmen der Anzeigenkunden liegen könnte, die sich mittlerweile fast genauso schwer überzeugen lassen wie Leser.

  19. Der Herr Niggemeier hätte sich statt der Mühe des Transkribierens der Ansprache des Kärtchenablesers Schreyl lieber die Mühe machen sollen, im Falle „Welt“ und „Presserat“ ordentlich zu recherchieren. Dann hätten die Anwälte von Axelotl Springer ihm keine Abmahnung schicken können. Somit wäre der Netzgemeinde auch die peinliche Bettelei des preisverwöhnten und gut bezahleten FAS-Kolumnisten Niggemeier erspart geblieben.

  20. off-topic, aber nur leicht:

    Die Ausgangsposition erinnert mich an etwas aus dem Politikwissenschaftsstudium: Die Erkenntnis, das die „Progressiven“ zwar das, platt ausgedrückt, bessere und richtigere Konzept haben, aber zu doof sind, es effektiv umzusetzen. Während es bei den Konservativen aber genau umgekehrt ist. Wobei mich die aktuelle Regierung anscheinend davon überzeugen möchte, dass es sogar geht, keine Ideen zu haben und die auch noch scheiße umzusetzen.

    Zum Thema Aufklärung: Ich glaube nicht, dass man selbst als halbwegs aufgeklärter Mensch, davon ausgehen sollte, dass der Rest der Menschheit eben das auch ist. Genausowenig, wie z.B. „die 68er“ stellvertretend für ein ganzes Land stehen. Man darf sich also nicht wundern, wenn Leute auf eine Art ticken, die man persönlich schon vor 20 Jahren für reichlich anachronistisch hielt.

    Im Theater z.B. stellt man fest, dass die Rezeptionsgeschichte der Entwicklung des Theaters um ca 80 Jahre hinterher hinkt. Was kann da nun ein effektiver Ansatz sein, Theater zu machen? Tempo rausnehmen und warten, sich also dem Publium anpassen? Weiter Gas geben und die Leut sollen schauen, wo sie bleiben? Oder sein Ding machen und möglichst gleichzeitig dafür sorgen, dass sich der Abstand mittel- oder langfristig verringert?

  21. @ Linus:
    Einer, der das „bessere und richtigere“ Konzept hat, ist also ein „Progressiver“? Und nur wer „progressiv“ ist, entscheidet, ob ein Konzept „besser und richtiger“ ist?

  22. @kontosperre: da es bisher weder jemals perfekt war, noch es heute ist, kann ein besseres Konzept ja per Definition nur neu sein, also progressiv.

    @Linus: ich finde es kein bisschen off-topic, ich weiß aber keine Antwort. Wahrscheinlichbfehlt schon grundlegend eine gesellschaftliche Vision.

  23. @mikis: A Propos Antwort schulden, ich hab jetzt eine Weile geschlafen, aber eins hätte ich doch noch:
    „in Zeiten, in denen eigentlich alle davon ausgehen, dass eine stärkere Regulierung zum Beispiel der Finanzmärkte nötig ist,“
    Wer sind denn alle? Mir ist schon klar, dass es ein bisschen unpassend wäre, hier jetzt eine ausführliche Diskussion über Finanzmarktregulierung anzufangen, aber ganz knapp formuliert war mir schon immer sehr suspekt, dass diese Debatte in der Öffentlichkeit oft so klingt, als müsste man nur „mehr“ regulieren, und schon wäre alles in Ordnung. Kaum ein Markt ist so streng reguliert wie der Finanzmarkt. Ich finde, dass die Frage viel mehr in die Richtung gehen sollte, welche Regeln Sinnvoll sind und welche nicht, statt diesen sinnlosen Streit zwischen „mehr“ und „weniger“ Regulierung aufzumachen. Das war auch der Hintergrund meiner Kritik an deiner FDP-Kritik: Ich finde das zu kurz gedacht. Die FDP ist nicht für die (möglicherweise unzureichenden) Finanzmarktregeln zu Zeiten der Krise verantwortlich. Warum wählt man deshalb gegen seine Interessen, wenn man sie nach der Krise wählt? Wären SPD, Grüne und CDU eine bessere Wahl gewesen, die vor während der Krise das Sagen hatten?
    Hm. Langer Kommentar ist das geworden, und völlig OT. Ich bin dir nicht böse, wenn du ihn ignoriest oder löschst. Aber jetzt habe ich ihn geschrieben, und zum Löschen ist er mir zu schade…

  24. @Muriel: Im Sinne des Pantelourissschen Beitrags könnte man sagen, er hat das Beispiel FDP gewählt, weil es keine signifikanten Hinweise gibt, dass es den Leitfiguren dieser Partei um irgendetwas anderes geht als Geld oder Leistung zu bevorteilen. Und damit Arme und Minderleister abzuwerten. Die sie aber zum Teil offenbar dennoch gewählt haben. Noch Fragen?

  25. @jokahl: Ganz anders als bei den Leitfiguren anderer Parteien, die ja vor Nächstenliebe und Selbstlosigkeit nur so schillern. Nein, alle Fragen beantwortet, danke.

  26. Entschuldigung, dass ich mich so spaet melde, es ist zu viel los im Moment. Mein dahingeworfener Schlenker ueber die FDP (entschuldigt auch die fehlenden Umlaute, ich sitze an einem griechischen Rechner in Athen) bezog sich auf eine Menge fuer mich unerklaerlicher Erhebungen ueber den Wahlerfolg bei der Bundestagswahl. Natuerlich sind solche Erhebungen schwierig, weil jeder theoretisch dabei luegen kann, aber nach den Zahlen (zum Beispiel hier: http://www.zeit.de/politik/deutschland/2009-09/wahlanalyse-fdp) haben auch viele Arbeiter die Partei gewaehlt, Erstwaehler und Arbeitslose, also Gruppen, die von der Steuererleichterungspolitik nicht einmal etwas haetten, wenn es sie wirklich gaebe, weil sie keine oder kaum Einkommenssteuer zahlen. Als Grund wurde offenbar meist die gefuehlte groessere Wirtschaftskompetenz genannt. Das waere in diesen Gruppen ein zunaechst einmal uneigennuetziges Argument (sie profitieren ja fruehestens im zweiten Schritt davon).
    Gleichzeitig leiden sie direkt unter den Massnahmen, die unter einer liberalen Wirtschaftspolitik subsummierbar sind, wie „flexiblerer Kuendigungsschutz“. Die Arbeitslosen haben ja auch sehr schnell erfahren, was Westerwelle tatsaechlich von ihnen haelt.
    Nach meiner Ansicht haben diese Waehler trotzdem auf die Slogans der Partei reagiert, weil sie sie unabhaengig von ihrer persoenlichen Situation als richtig empfanden, also mit der moralischen Bewertung „gut“ versehen haben. Etwa „Leistung muss sich wieder lohnen“. Das ist ein Satz, dem kaum zu widersprechen ist. Der aber aus meiner Sicht fuer die hier angesprochenen Gruppen ueberhaupt keine Relevanz hat, weil ihre Leistung sich entweder schon im Westerwellschen Sinne lohnt (weil sie keine Einkommenssteuer zahlen, weil sie unter den Freibetraegen verdienen) oder ihre Leistung, wie bei den Arbeitslosen oder den Erstwaehlern (die im Durchschnitt auch noch nichts oder nicht relevant viel verdienen) gar nicht abgefragt werden. Um das zu erreichen, muss eine Partei wie die FDP Verstaendnisrahmen jenseits von blossen Fakten etablieren. Das ist ihnen bis zur Wahl gelungen (auch deshalb, weil die Gegner nicht sehr stark waren und zum Beispiel die SPD ueberhaupt nicht mehr kommunizieren konnte, worum es ihr eigentlich geht).

  27. Ich weiß nicht, ob es am Rahmen liegt, in dem etwas wahrgenommen wird, aber mich hat es fast ein wenig erschreckt, dass auch kritische Geister wie jokahl (unbewusst?) die hanebüchene Argumentation von den Leistungsträgern übernehmen. Wen will die FDP denn entlasten? Menschen die viel leisten für unsere Gesellschaft? Das wären für mich Lehrer, Krankenschwestern, Altenpfleger, Sozialpädagogen. Oder Leute, die viel Geld machen/haben, z. B. Investmentbanker, deren Leistung darin besteht, an von ihnen selbst geschaffenen Spekulationsblasen und Geschäften mit möglichst wenig reelem Hintergrund möglichst viel Geld zu verdienen?
    Gerade Journalisten wären gefragt, immer wieder zu hinterfragen, wer eine „Leistung“ vollbringt, die der Gesellschaft wirklich nutzt und wer die wirklichen Schmarotzer sind. Volker Pispers hat das mal schön zusammengefasst:

    http://www.youtube.com/watch?v=4kCNOb9PTuY

    Sorry vielleicht auch off topic, aber das musste raus.
    Wen das mit den Leistungsträgern interessiert, der kann hier weiterlesen:

    http://www.nachdenkseiten.de/?p=4443

  28. @Chris: Das trifft ganz genau den Punkt, allerdings glaube ich, der verantwortliche Verständnisrahmen liegt noch eine Etage darunter. Es ist der Mythos des „Self-Made-Man“. Denn wir lernen und bekommen immer wieder erzählt, wie es Menschen aus dem Nichts und ganz allein „geschafft“ haben. Dieser Rahmen ist so verlockend wie falsch, aus zwei Gründen: Zum ersten appelliert er an den konservativen Denkrahmen „Disziplin und Fleiß zahlen sich aus“, der eben auch den Umkehrschluss zulässt, dass wer es nicht „schafft“ disziplinlos und faul ist (das strukturelle Problem der Arbeitslosigkeit zum Beispiel wird individualisiert), und zum Zweiten blendet es aus, dass niemand auf der Welt es allein irgendwohin schafft. Er braucht die Infrastruktur und den Schutz der Gemeinschaft. Niemand ist „Self made“, an jedem Erfolg hat die Gemeinschaft ihren Anteil.
    Das soll die individuelle Leistung nicht schmälern, die kann trotzdem riesig sein, aber durch den Mythos ist es gelungen, den „Leistungsträger“ von seiner Schuld gegenüber der Gemeinschaft zu entkoppeln.
    Wie „sinnvoll“ eine Leistung für die Gesellschaft ist wird nicht zu klären sein (die Leistung eines Wertpapierhändlers ist letztlich die, jemanden zu finden, der ihm sein Papier für einen höheren Preis abkauft – nicht die Spekulation als solche. Die Leistung von Boris Becker war es, Millionen Menschen dazu zu bringen, ihm zuzusehen, wie er einen Ball über das Netz schlägt – nicht das Schlagen selbst), aber fest steht, dass er seine wie auch immer geartete Leistung nicht „allein“ vollbringt, sondern innerhalb eines Systems, das von uns allen am Laufen gehalten wird. An diesem System muss er angemessen beteiligt werden, wenn er es zu seinen Gunsten zu benutzen weiß.

  29. @Chris/27: Das von der FDP und anderen transportierte Verständnis von Leistung liegt mir sowohl bewusst als hoffentlich auch unbewusst recht fern. Deines ist mir mir näher Ich habe mich einfach nur ungeschickt ausgedrückt. Es hätte heißen müssen „so genannte Leistung“ o.ä.

  30. Viele schlaue Gedanken im Artikel und den Kommentaren – danke dafür!

    Ich will noch mal zum Ausgangspunkt – DSDS und Bild/Bohlen zurückkommen, denn irgendwie verstehe ich da was nicht:

    DSDS verkauft die Aschenputtel- / Traum vom sozialen Aufstieg / Jeder kann es schaffen – Geschichte. Ob einem der Stil nun passt oder nicht, die Story und der zugrunde liegende Werterahmen ist ja bekannt und uns nicht völlig fremd.

    Jetzt suchen die DSDS-Macher aus 12.000 Bewerbern einen kleinen dicken Zigeuner raus, der ja praktisch der ultimative Super-Proll ist. Prolliger und von noch weiter unten geht ja nun kaum noch.

    Aber ok, sie wollten halt den maximalen Aufstieg zelebrieren, von ganz unten nach ganz oben. Das passt ja in den Bezugsrahmen von „you can get it if you really want“. Da darf man dann auch seine Vergangenheit hinter sich lassen und so. Nicht die Vergangenheit zählt, sondern das hier und jetzt und der Wille zum Erfolg. Entsprechend war Menowin ja Bohlens Liebling und wurde entsprechend gefördert.

    Und im Finale schießt nun die Bild dagegen?

    Warum genau haben sie das getan? Weil er ihnen zu prollig ist? Das fällt denen am Ende der Showreihe ein? War das jetzt von Anfang an so geplant und mit Bohlen abgesprochen? Oder gabs schlicht irgendwelche Zerwürfnisse hinter den Kulissen?

    So ganz klar geworden ist mir die Dramaturgie da nicht. Vielleicht war es auch schlicht so nicht geplant.

  31. @Matthias: Ich glaube, ich kann das auflösen, allerdings beruht die Recherche eher auf Flurfunk und ist mehr ein Educated Guess als dass ich eine Geschichte daraus machen wollte. Trotzdem: Ich bin der Überzeugung, dass es so gewesen ist: Natürlich konnte Menowin irgendwann nicht mehr der Kandidat der Bild sein. Ein Knasti, der Kinder mit seiner Cousine hat, der behauptet, er wäre bei seiner kranken Tante und könnte deshalb nicht proben, der aber stattdessen die Nächte durchfeiert usw. ist als Hassfigur viel zu gut, um nicht darauf herumzureiten. Und dann hat es nachdem, was ich höre, offenbar den Versuch von Seiten von DSDS oder sogar von Bohlen in Richtung Bild gegeben, die Kampagne gegen Menowin zu stoppen. Und das ist etwas, worauf die Bild allergisch reagiert. Stattdessen haben sie von dem Moment an „Offizielle Bild-Kampagne“ über die Geschichten geschrieben. Was im Prinzip so ehrlich ist, dass ich es mir öfter wünschen würde. Denn ich habe ja nichts gegen Meinungen, auch nicht gegen Meinungsjournalismus, so lange die Professionalität gewahrt bleibt, alle relevanten Fakten auf den Tisch zu legen und die Meinung als solche zu kennzeichnen.

    Was allerdings bei oder an DSDS relevant ist, darüber möchte ich nicht einmal nachdenken.

  32. Lieber Mikis, herzlichen Dank für deinen „Educated Guess“ – so ist die Story absolut plausibel.

    Und über die Relevanz von DSDS brauchen wir nicht zu diskutieren – denn letzlich hat sie dein Artikel ja genau auf den Punkt gebracht: das Wertesystem Bohlen – arbeite hart für deinen Erfolg – wird schon mit beachtlicher medialer Reichweite viele hundertausende pupertierenter Köpfe gehämmert. Das ist aus meiner Sicht mehr gut als schlecht, zumindest ja mal besser als „leg die Füße hoch und dann ein Magnum“.

    Dass Berühmtheit kein Wert an sich ist, Geld nicht glücklich macht und der amerikanische Traum immer nur für einige funktionieren kann und gleichzeitig bestimmte gesellschaftliche Strukturen festigt – alles richtig, aber das sind halt Diskussionsthemen für Intellektuelle 😉

  33. Sehr netter Artikel. In diesem Zusammenhang auch immer lesenswert: Mythen des Alltags von Roland Barth..

  34. Ich mag uninspirierte Dankespostings nicht. Deswegen ganz schnell: Danke, Michalis Pantelouris. So habe ich das noch nie gesehen.

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