Danke, dass Sie mich kritisieren

Journalisten gehören, das hören sie immer wieder, zu den am meisten verachteten Berufsgruppen überhaupt. Allerdings glauben sie das nicht. Insofern war das auch nie ein Anlass, etwas an ihrer Arbeit zu ändern. Dass selbst in den Online-Angeboten hoch respektierter Zeitungen in den Kommentarspalten oft rüde Kritik geübt wird, hat viele Kollegen in den letzten Jahren eher dazu verleitet, das Internet zu meiden oder Leser im Allgemeinen für nerviges Pack zu halten. Diskussionen zwischen Autoren vor allem von Print-Geschichten und ihren Lesern sind nach wie vor selten, und selbst Online-Redaktionen beachten die Kommentarspalten regelmäßig nicht. Nicht einmal Fehler, auf die in den Kommentarspalten hingewiesen wird, werden in Geschichten verbessert. Jede andere Branche, die derart ignorant mit ihren Kunden umginge, würde nicht nur untergehen, sondern auch noch von der Presse zerrissen.

Ich habe in den letzten Wochen eine Geschichte machen können, die in der Form ein Experiment war. Bei der (unglücklich betitelten) „Livereportage“ konnten Leser die Entstehung der Geschichte verfolgen und bereits dort kritisieren. Und das haben sie getan. Bezeichnenderweise drehen sich danach sehr viele Gespräche, die ich führe, um diese Kritik. Ich werde manchmal fast schon bemitleidet. Und das ist, wenn man es genau betrachtet, bizarr: Das Sammeln von Erkenntnissen und Erfahrung ist das Ziel von Experimenten, die ergebnisoffen geführt werden, und umfangreiche Kritik ist wahrscheinlich der direkteste Weg, den wir dorthin haben können. Ein echtes Problem wäre zu wenig Kritik.

Ich glaube, dass unsere Einstellung zu Kritik, namentlich die oft fehlende Bereitschaft von Medienschaffenden, auf Kritik einzugehen und aus ihr zu lernen, doppelt schädlich ist. Zum einen verhindert sie, dass unsere Produkte besser werden, und zwar besser für die, die sie konsumieren. Und das sind die, die zählen. Zum zweiten wirkt die Einstellung aber auch noch arrogant — vielleicht auch deshalb, weil sie es oft genug einfach ist. In jedem Fall zementieret sie den Graben zwischen Konsumenten und Medienschaffenden, der wie ein Burggraben wirkt, hinter dem Journalisten und Verlage ihre schwindenden Pfründe verteidigen. Aber funktionieren wird das nicht ewig.

Anstatt ein Modell zu verteidigen, das dazu geführt hat, dass unser Beruf zu den meistverachteten der Republik gehört, lohnt es aus meiner Sicht, in die Offensive zu gehen und Modelle auszuprobieren, die es ermöglichen, die systemrelevante Dienstleistung Journalismus erfolgreich und einträglich zu erbringen. Denn Journalismus an sich ist in seiner Wertigkeit unumstritten. Aus der Kritik zum Beispiel an meiner Livereportage kann man auch lesen, dass dem Journalismus im Prinzip sogar gigantische ethische Prinzipien unterstellt werden. Die Vorstellungen davon, welche Kriterien der Qualitätssicherung Verlage haben, sind manchmal bizarr übertrieben. Der Glaube an bestimmte Medienmarken genauso. Nur eben das Vertrauen in einzelne Journalisten eben nicht. Was aus meiner Sicht bedeutet, dass der einzelne Journalist transparenter, öffentlicher, erreichbarer und kontrollierbarer werden muss. Die Antwort auf Kritik, auch unsachliche und sogar ausfällige Kritik kann nicht sein, sich der Kritik zu entziehen. Sie muss im Gegenteil dazu führen, dass wir uns erst recht der Kritik aussetzen, um sie durch unsere offene und kontrollierbare Arbeit zu entkräften. Das wäre ganz nebenbei auch die einzige Möglichkeit, den bisher oft nur behaupteten Qualitätsvorsprung von Profis gegenüber den User-Journalisten zu belegen, wenn es ihn denn tatsächlich gibt.

Kritik ist kein Problem, sondern im Gegenteil die größte Chance des Journalismus in der Übergangsphase, wie wir ihn erleben. Denn Kritik bedeutet auch, dass da Menschen engagiert sind in der Debatte, dass sie uns ihre in der Masse riesige Weisheit überlassen und von uns im Gegenzug zu ihrer Zeit und Energie nur eins verlangen: Respekt.

31 Antworten auf „Danke, dass Sie mich kritisieren“

  1. Ich habe die Reportage gestern leider nur im Nachhinein durchgelesen, daher kann bei mir von „live“ keine Rede sein, aber Sie haben meinen Respekt dafür, dass Sie das Experiment nicht nur gewagt haben, sondern, und vor allem, auch dafür, wie Sie mit der Kritik auf Neon umgegangen sind. Es ist leider nicht so, dass jede Kritik gewinnbringend ist, und m.E. sollte man über alle (berechtigte) Kritik auch nicht die eigene Linie verlieren.

    Mir selbst hat die Reportage eine kleine Ahnung davon gegeben, was Journalismus sein könnte, wenn man ihn wieder ernst nimmt und mit Hingabe betreibt. Und wenn man die Möglichkeiten wahrnimmt, die sich bieten. Vielen Dank dafür.

  2. Und für diesen schönen Artikel gibts dann auch positive Kritik (und ein paar cent via flattr wo ich ihn überhaupt erst entdeckt habe) – ich sehe hier eines der Hauptprobleme sehr gut erfasst, wollen hoffen das jetzt auch daran gearbeitet wird. Von allen beteiligten natürlich.

  3. danke für den artikel! Ich schließe mich tes an.
    kritik an der kritik-resistenz der Branche ist okay, aber langsam geht mir dieses geseier von: „ach die rückkopplung mit dem user ist so toll. diese kritik ist unschätzbar wertvoll“ massiv auf den geist.

    klar: dass netz verändert den journalismus. neue (technische) möglichkeiten eröffnen ungeahntes Potential. und klar: ein journalist muss damit umgehen können – kommentare beantworten, sich aufmerksamkeit und im besten fall glaubwürdigkeit hart eraeiten. aber muss das der inhalt vieler ‚hipper‘ blogs und dem gerede der ganzen web2.0 und social-media-consulans sein?

  4. Lob: Ich bin ganz Ihrer Meinung. Sämtliche Medien wandeln sich durch das Internet und die damit gewonnene Transparenz und den direkten Dialog. Print wird das nicht ignorieren können – oder beim Versuch untergehen.
    Kritik: Selbst mit Safari 5.01 habe ich Probleme mit Ihrem RSS-Feed. Alle 117 anderen funktionieren (meist). Ich tippe daher mal auf ein technisches Problem auf der Serverseite. Vielleicht sieht mal jemand nach. Danke.

  5. Ich habe mehr von der Reportage erwartet. Ganz abgesehen von Formulierungen, bei denen es mich gruselt („Der Mann, wegen dem….“), ist alles so seltsam unlebendig. Ich kann mich nicht wirklich in alles hineinversetzen.
    Leider ist auch Neon die völlig falsche Plattform. Ich habe selten so viele untalentierte Schreiberlinge auf einem Haufen gelesen.

  6. Schönes Plädoyer für Kritikfähigkeit. Chapeau. Flatter. Undsoweiter. Allerdings halte ich persönlich Journalismus nicht für „systemrelevant“, und der schlechte Ruf des Berufs kommt mitnichten von ungefähr, sondern von jener Mehrzahl der Kollegen, die mit teils unfassbarer Arroganz und Ignoranz arbeiten. Wie bei der Polizei nimmt der Mob dann eben den ganzen Beruf meinungsmäßig in Sippenhaft.

  7. Ich habe von der Live-Reportage, dem Experiment, gehört bzw. gelesen (interessant!), aber es gar nicht verfolgt. Finde aber die Kritik an der Kritikunfähigkeit einfach schon per se so derart gut, dass ich nur absolut 100pro beipflichten kann. Meinen Segen hast Du. gs

  8. die „unsachliche bis ausfällige kritik“ wird, me, oft einfach durch das gefühl ausgelöst, mit aller kritik nie jemanden zu erreichen.

    allein der permanent wiederholte unfug „das internet dürfe kein rechtsfreier raum sein“, bringt mich zum beispiel auf die palme. es ist oft genug und umfassend darauf hinbgewiesen worden, dass dies eine bewusste verfälschung ist, die der realität nicht gerecht wird (ganze kanzleien leben davon, im internet recht durchzusetzen — wenn überhaupt jemand im internet rechtsfrei ist, dann der druchschnittsanwender, der dem abmahnwahnsinn und den gewinnträchtigen beschuldigungen, zb raubkopierer zu sein, praktisch ohne rechtschutz ausgeliefert ist).

    wenn man sowas immer wieder und wieder anbringt und dann doch sieht, dass dies vollkommen ignoriert wird (entweder weil lesermeinungen, sofern nicht zustimmend, eh irrelevant sind oder weil die produktionsgrundlage des autors damit bedroht würde), dann kann einem schon die galle hochkommen.

    nützt natürlich nix und bestätigt die kritisierten nur in ihrer leserverachtung …

  9. @kritik: Um zu unterstützen, was du sagst: Ich habe die Erfahrung gemacht (und von einigen bestätigt bekommen, dass sie das genau so erlebt haben), dass unsachliche und unflätige Kritik zu 99 Prozent plötzlich sachlich und zivilisiert wird, sobald jemand da ist, der mit den Kritikern diskutiert. Wenn ein Mensch sich in eine Diskussion begibt, wird er auch wie ein Mensch behandelt. Wenn eine Institution ihre Kommentarspalte nur als Wand behandelt, an die User ihre Anmerkungen kritzeln dürfen, dann kriegen sie eben genau das, wonach sie implizit verlangt haben: Schmierereien.

  10. vielen dank für ihre gesunde haltung.

    ich fühle mich in meinem bekanntenkreis oft missverstanden, da ich um so ausführlicher kritik übe, je besser und wichtiger ich eine äußerung finde. belanglosigkeit regt mich nun mal wenig an. wer versteht schon, dass kritik oft ein lob ist, eine bitte, den eingeschlagenen gedanklichen weg noch ausführlicher auszuleuchten?

    viel erfolg und fruchtbare kritik wünscht uns und ihnen

    .~.

  11. @Maschinist: Ich finde den Fehler im RSS-Feed nicht. Bei mir funktioniert alles (allerdings nur mit print-wuergt.de, nicht mit dem Umlaut ü. Die URL funktioniert zwar, aber der Feed nur mit xn--print-wrgt-geb.de/feed. Liegt es vielleicht daran? Sonst fällt mir nichts mehr ein …). Sorry!

  12. @mikey In ihrer Summe sind die Kommentare bei Publikationen, in denen Kommentare ernst genommen werden, meiner Erfahrung nach sehr schlau.

  13. Noch eins: Kritik an sich ist neutral. Es gibt positive Kritik und negative Kritik. Kritik beschreibt eigentlich eher das Tun (kritisieren). Es beschreibt noch nicht den Inhalt.
    Lob ist allerdings eindeutig ^^
    Kommt auch von meiner Seite. Ohne Kritik.

  14. Grundsätzlich Zustimmung zur nicht selten mangelnden Kritik- und Dialogfähigkeit.
    Allerdings sollte man dennoch reflektiert mit Kritik umgehen. Fehler gehören beispielsweise transparent korrigiert.

    Ansonsten bin ich aber skeptisch bei der These, dass man sein „Produkt“ besser machen könne, wenn man auf die Kritiker hört. Das mag in Teilen stimmen, man darf aber nicht vernachlässigen, dass Beschwerden und Kritik niemals repräsentativ für die Leser sind. Kritik wird schneller geäußert als Lob und einen „fand ich ganz ok so“-Kommentar wird man wohl nie erhalten.
    Deshalb wäre es IMHO ein Fehler, es besonders den Kritikern recht machen zu wollen, sondern muss auch andere Kriterien und Methoden für Verbesserungen heranziehen, die ein breiteres Feedback erzeugen als Kommentare und Lesermails.

  15. @Patrick & indirekt auch Petra: Ich stimme dir voll zu, aber ich glaube, der Prozess ist in der Realität ein wenig anders: Wenn ich etwas produziere, dann bin ich dafür verantwortlich, und hoffentlich ist es sogar ein einmaliges Produkt dadurch, dass ich es produziert habe (bei Texten ist das wohl eher der Regelfall – jeder schreibt ein bisschen anders). Kritik wie die von Petra oben setzt dann den Prozess in Gang, noch einmal zu überdenken, ob ich generell oder an bestimmten Punkten etwas besser hätte machen können. Das heißt nicht, dass es so ist. Aber es lohnt sicher, ernst gemeinte Kritik zu reflektieren.

    Zum Beispiel: Petra schreibt „Ich habe mehr von der Reportage erwartet. Ganz abgesehen von Formulierungen, bei denen es mich gruselt (“Der Mann, wegen dem….”), ist alles so seltsam unlebendig. Ich kann mich nicht wirklich in alles hineinversetzen.“ In diesem Fall habe ich Glück: Ich kann die Kritik gut nachvollziehen, ich finde sie auch richtig, allerdings hätte sie mich nicht dazu gebracht, etwas zu ändern, weil ich in diesem speziellen Fall ja gerade verhindern wollte, zu emotional zu berichten. Das „seltsam unlebendig“ ist richtig, es ist aber gewollt gewesen und taucht sogar in manchem Lob auf als „angenehm sachlich“. Kurz: Ich kann es nicht allen recht machen, einzelnen Kritikern sowieso nicht, aber ich kann trotzdem aus fast jeder Kritik etwas lernen.

  16. Ich hab die Reportage leider auch nicht live mitverfolgt, obwohl ich im Vorfeld davon wußte. Neon und Stern lungern allerdings im toten Winkel meiner Wahrnehmung, wohin dann wohl auch diese Reportage gerutscht ist.
    Ich habe sie mir dann nachträglich durchgelesen. Und ich finde sie großartig. Das hat weniger etwas mit den Subjekt als mehr mit dem Objekt zu tun. Erste Person singular ist für mich die Zukunft des Journalismus. Das „Ich“ macht nach meinem Dafürhalten eine Reportage per se erlebbarer, weil es ehrlicher zeigt, was jeder Text in jeder Zeitung/Magazin sowieso schon ist und immer war: subjektiv.
    Das Ich eines Journalisten hat meiner Meinung nach die Aufgabe und Gabe, das Subjekt seiner Untersuchung aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und sich so nach bestem Wissen und Gewissen einer Objektivität anzunähern.
    Ich finde, das ist in dieser Reportage sehr gut gelungen, nicht zuletzt eben durch die recht sachliche Darstellung.
    Was mir besonders gut in jedem einzelnen Beitrag/Tag gefallen hat, ist der Tatsache, dass sich „Ich“ und Kompetenz nicht auschließen.
    Vermeintliche Kompetenz versteckt sich in den Medien hierzulande gerne hinter einem noch viel vermeintlicher obejektiven „man“.
    Die Reportage ist der Beweis des Gegenteils.

    Und was die Kritik und die Kritiker betrifft…
    im Grunde sollte jeder Journalist sein eigener Kritiker sein. Aber welcher Mensch ist sich selbst gegenüber schon objektiv?
    Da kann es ganz hilfreich sein, wenn man von außen einen Stoß in die richtige/eine andere Richtung bekommt.
    Wenn man sich davon nicht aus der Bahn werfen lässt, hilft das immens bei der Auseinandersetzung mit seinem eigenen Tun. An sich gilt das für jeden Job. Bei einem Journalisten aber ganz besonders, denn sein Job besteht genau daraus.

    Hatte ich schon erwähnt… gute Reportage, gelungenes Experiment!
    Respekt!

  17. Ich habe von der Reportage zwar hier und bei Niggemeier gehört, sie aber auch erst jetzt im nachhinein gele… ne überflogen.

    Ich musste jetzt erstmal nachdenken, warum mich das nichtmso interessiert hat. Zwei Gründe fallen mir ein: den ersten hast du auch in deiner Bilanz schon genannt, das ist eine unangenehme Geschichte. Jahre nach dem Tod eines Menschen im Ausland zu recherchieren, das hat was total machtloses / frustrierendes.

    Der zweite Punkt scheint mir aber noch wichtiger, und er ist bisher in der Diskussion nach meiner Wahrnehmung zu kurz gekommen, und er hat weder mit dir noch mit dem Thema zu tun:

    Ich möchte gute Geschichten lesen!

    Eine Geschichte ist aber eher das Endprodukt der journalistischen Arbeit. Beim Überfliegen deiner Reportage ist das eher so, als ob ich dir beim Recherchieren über die Schulter schaue. Das klingt im ersten Moment spannend, aber ist es eigentlich nicht, zumindest nicht so und nicht für mich.

    Ich will bei der Geschichte vorher wissen, was ist das – ist das ein Drama, ein Justizskandal, ein Krimi, wird ein Mörder gefangen…

    Warum ist das so? Ich weiß es nicht! Vermutlich ist das einfach eine Lesegewohnheit. Ich kann mich erinnern, als ich bei Niggemeier von dem Experiment gelesen habe, war mein erster Gedanke: interessant, mal sehen „was dabei herauskommt“ (!).

    Vermutlich ist das für dich, mikis, schwer zu verstehen, da du natürlich den Prozess des Entstehens der Geschichte, die journalistische Arbeit, toll findest, sonst wärst du kein Journalist geworden.

    Vielleicht wird es mit diesem Bild noch deutlich: das Ganze fühlt sich für mich an wie eine Kochsendung. Ja ich weiß, viele Menschen schauen gerne Kochsendungen.

    Ich nicht. Ich esse viel lieber.

    Kann jemand diesen Blickwinkel nachvollziehen?

  18. Ha, fieser Vergleich! Aber, ja, klar kann ich den Blickwinkel nachvollziehen, und das bleibt ja auch unbenommen. Allerdings glaube ich, dass tendenziell Journalismus (aus meiner Sicht sogar zum Glück) immer weniger Fertiges anbieten kann, und immer mehr der Tatsache Rechnung tragen muss, dass das Leben und dementsprechend auch Nachrichten ein Prozess sind.

  19. Mikis, dass Nachrichten ein Prozess sind – einverstanden. Vorallem eben dann, wenn es gar nicht anders geht – nimm z.B. das Loveparade- Unglück. Diese Story entblättert sich ja erst langsam über Wochen, und man kann selbst heute noch kein abschließendes Bild zeichnen.

    Bei deiner Geschichte wäre das aber gegangen.

    Übrigens zahle ich mit dieser Haltung natürlich einen Preis: nämlich den, dass der Autor Dinge wegläßt, andere „schleift“, um eben eine runde Geschichte zu bekommen, mit Einleitung, Spannungsbogen, Interpretationen usw.

    Das ist mir bei diesem Experiment noch mal sehr deutlich klar geworden – danke dafür!

  20. @ Matthias: Ich habe die Reportage mitverfolgt und auch den einen oder anderen Kommentar geschrieben. Ich hatte mir, ehrlich gesagt, auch etwas mehr davon versprochen, und zwar genau den Spannungsbogen, den Du, Matthias, bei einer guten Geschichte erwartest. Aber nach einigen Tagen war bereits klar, dass nichts neues herauskommen würde (was explizit nicht mikis‘ Intention war).

    Das Problem hierbei ist, dass wir es nicht mit einem fiktionalen Roman zu tun haben, sondern mit realen Geschehnissen, hinter denen Menschen stehen, die für unseren herrlich kitzeligen Grusel mindestens einmal durch die Hölle gegangen sind. Der Trend der letzten Jahre ist immer mehr in Richtung Entertainisierung von Nachrichten und Geschichten gegangen, angeblich will der Leser das so. Das Wahre muss durch Weglassen für eine runde Geschichte dann auch gern mal zur Ware geschliffen werden.

    Der Prozess geht sogar viel weiter: Nicht nur, dass Täter und Tatorte jetzt digital illustriert werden, wenn es keine geil schockenden Bilder gibt, in Thailand gibt’s das Ganze jetzt als geile Animation (http://www3.ndr.de/sendungen/zapp/media/taiwan110.html). Wir werden das wohl auch bald haben. Damit wir uns wieder geil gruseln können.

    Insofern geht mikis in die entgegengesetzte Richtung: Schonungslos alles offenlegen, was der Wahrheits- und Wahrhaftigkeitsfindung dient, um das Vertrauen in den Journalismus zu stärken. Ich halte seine Idee für die Idee des Jahrzehnts und preisverdächtig. (Ich hatte mir zwar mehr und aussagekräftigere Dokumente erwünscht, aber der Schutz der Privatssphäre geht vor.) Das macht Journalismus belegbar und nicht mehr zur Glaubenssache.

    Allein, wer will das? Wer will Wahrheit, wer Realität? Die Leute (Leute, nicht Menschen!) wollen eine Wirklichkeit, die darf auch passend zurechtgebastelt sein. In einer ARD-Reportage über die Volksmusikwelt sagte ein begeisterter Zuschauer auf die Frage, was er an der Volksmusik so schätze: „Das ist doch die letzte heile Welt, die uns noch bleibt.“

  21. Hallo Herr Pantelouris,

    auch ich habe Ihre „Live-Reportage“ mit Interesse verfolgt, wie man so schön sagt. Ich möchte hier ausdrücklich keine inhaltliche Kritik an Ihrem Experiment äußern, viel spannender ist meines Erachtens nämlich ein anderer Kontext, nämlich der der Veröffentlichungsplattform.

    Hier ist schon mal das Beispiel „Loveparade“ gefallen, ich möchte es in einem völlig anderen Zusammenhang erwähnen: Statt der nüchternen Erkenntnis, dass das Gelände von vornherein nicht für eine solche Veranstaltung geeignet war, wurden alle möglichen Nebenkriegsschauplätze eröffnet (Barrieren, Sicherheitskräfte etc). Alles richtige und berechtigte Manöverkritik. Ändert aber nichts am Kernproblem: dass die Veranstaltung an diesem Ort niemals hätte stattfinden dürfen.

    Ähnlich verhält es sich mit Ihrem neuen journalistischen Format. Es hätte niemals auf Neon.de stattfinden dürfen.

    Sie hatten sich, soweit ich weiß, ja nicht darum geschlagen, gerade auf dieser Ihnen doch eher wenig bekannten Plattform zu veröffentlichen. Vielmehr waren Sie ja nach eigener Aussage dankbar, dass sich schließlich ein Verlag bzw. dessen Website dazu „erbarmt“ hat, ein solches Experiment durchzuführen. Ich bin selber nicht in dieser Community aktiv, kenne aber die Strukturen und lese öfters mal mit. Sie selbst und auch viele interessierte Beobachter sind ja doch ziemlich überrascht und verwundert über die harsche Kritik, die es dort Ihnen und Ihrer Arbeit gegenüber gehagelt hat – schon als noch gar nichts geschrieben und lediglich das Konzept erläutert war. Die Verhaltensweise der Kommentatoren bei Neon.de stand ja durchaus im krassen Widerspruch zu den doch viel ausgeglicheneren und erwartungsfroheren Kommentaren auf anderen Blogs und Plattformen. Die Masse der vernichtenden Kritik war ganz klar und deutlich nur auf die Veröffentlichungsplattform konzentriert. Warum?

    Ich behaupte, dass das Resonanzdebakel auf Neon.de rein technisch begründbar ist und dass man sich deshalb gar nicht allzu sehr in der Diskussion über den Umgang mit ausufernder Kritik an neuen Journalismusformen als solches verlieren muss, denn darum ging es nur periphär.

    Neon.de ist eine geschlossene Community. Eine, in der die User gleichzeitig Leser und Autoren sind. Sie schreiben unentgeltlich, „just for fame“. Aus Betreibersicht ist das die Perfektionierung des AAL-Prinzips (andere arbeiten lassen). Es ist gelungen, ein System zu etablieren, in dem ständig ansprechender kostenloser Content produziert wird, der gleichzeitig einer Qualitätskontrolle der User untereinander unterzogen wird.

    Wird dieser autonomen Gemeinschaft nun aber ein von außen kommender, etablierter Journalist aufgetischt, der seine Arbeit nicht nur als Hobby begreift und dadurch seinen Lebensunterhalt zu verdienen in der Lage ist, so gerät das empfindliche Ökosystem Neon.de in Schieflage. Sie, Herr Pantelouris, werden einfach als unliebsame Konkurrenz angesehen, und zwar als eine, die sich noch nicht mal innerhalb der Community Respekt erarbeitet hat, sondern den Leuten einfach von der Geschäftsleitung vorgesetzt wird. Und jemand, der bereits besitzt, was die allermeisten der ambitionierten Hobbyschreiberlinge dort nie haben werden: Bekanntheit über die Grenzen der Plattform hinaus und ein Einkommen durch genau diese Tätigkeit. Da ist Neid und Missgunst vorprogrammiert und äußert sich als unqualifizierte Kritik zu Hauf in den Kommentaren.

    Eine Veröffentlichung auf einer Verlagsplattform, auf der alle Autoren professionell arbeiten, hätte einen völlig anderen Outcome bei den Lesern produziert als bei einer Community wie Neon.de. Einer Community, in der man – und das ist der zweite Punkt – als Außenstehender gar keine Möglichkeit hat, zu kommentieren, außer, man meldet sich dort extra an. Da aber gerade die Außenstehenden die Reportage mehrheitlich wesentlich offener und positiver aufgenommen zu haben scheinen, fehlen diese Stimmen demzufolge in den Kommentaren, was eine völlig verzerrte Gesamtresonanz ergibt.

    Bevor man also die Debatte allzu leicht auf der Schiene „Journalismus muss sich der harschen Kritik stellen“ einfährt, sollte man erstmal erkennen, dass Neon.de einfach eine denkbar ungeeignete Plattform war.

  22. @spltny: Dass neon.de so eine geschlossene Community von Hobbyschreibern ist, wußte ich auch nicht – lese da aber auch nie. Falls dem tatsächlich so ist, trifft deine Analyse natürlich voll ins Schwarze.

    @Twisto: wegen der ganzen Wahrhaftigkeit, Wahrheitsfindung im Journalismus und so weiter – alles schön und gut, lass mich meinen Punkt noch mit einem anderen Beispiel illustrieren.

    Dieser Artikel stand im gedruckten Spiegel vom letzten Montag, und er hat mir beim Lesen großen Spass gemacht:

    Insel ohne Insulaner von Jürgen Dahlkamp:

    http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,710876,00.html

    Beim Lesen hatte ich ein breites Grinsen im Gesicht, vorallem der Einstieg mit Robinson ist wirklich klasse kreativ, mir hat diese Lektüre jedenfalls den Tag verschönert letzten Montag.

    Inhalt des Artikels ist das Problem der Sylter, dass die ganzen Reichen die (Immobilien-)preise so hochtreiben, dass sich die Einwohner selbst Sylt gar nicht mehr leisten können.

    Hätte ich dieses Thema auch in Form einer Live-Reportage gerne gelesen? Also etwa „Sylt, Westerland, Dienstag 9.30 Uhr. Gleich treffe ich den Bürgermeister…“. Also ich glaube nicht dass ich das gelesen hätte.

    Worauf ich hinaus will: Es gibt Nachrichten, nehmen wir das Love-Parade – Desaster, oder die Wahl des neuen Bundespräsidenten, die haben für mich als Leser eine generell hohe Wichtigkeit, sie gehören zum Weltgeschehen dazu. Deshalb interessieren sie mich.

    Und dann gibt es ganz viele Dinge, dazu gehören die Immobilienpreise auf Sylt, aber auch das Schicksal einer Deutschen in Griechenland, die betreffen mich weder direkt noch sind sie in der Liga der Nachrichten wie oben beschrieben.

    Diese Geschichten interessieren mich zwar auch – aber da kommt nun mal für mich ganz stark die Form ins Spiel – die Form muss mir den Inhalt verkaufen. Durch zugespitzen ironischen Schreibstil wie im Sylt-Artikel, oder durch besondere Spannung, interessante Hintergründe, was auch immer.

    Und da stelle ich nur fest, dass die Form der „Live-Reportage“ – für mich – nicht so toll funktioniert, mir kam das etwas sperrig rüber. Authentizität hin oder her.

    Aber das ist nur mein persönlicher Geschmack… alle anderen Meinungen halte ich für genauso legitim….

  23. Danke, Herr Pantelouris, für Ihren Mut zu diesem spannenden Experiment! Mich beschleicht ein bisschen der Verdacht, gerade einen kleinen Blick auf eine mögliche Zukunft des Journalismus erhascht zu haben – zumindest, was aktuelle Berichterstattung angeht. Alles Gute!

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